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Meisternovellen

Meisternovellen

Titel: Meisternovellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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brauchen könnte, daß sie mich brauchte … es war ja schon Donnerstag morgens, als ich heimkam, und Samstag … ich sagte es Ihnen ja … Samstag kam das Schiff, und daß
diese
Frau, diese hochmütige, stolze Frau die Schande vor ihrem Gatten, vor der Welt nicht überleben würde, das wußte ich … Ah, wie mich solche Gedanken gemartert haben an die sinnlos vertane kostbare Zeit, an meine irrwitzige Übereilung, die jede rechtzeitige Hilfe vereitelt hatte … stundenlang, ja stundenlang, ich schwöre es Ihnen, bin ich im Zimmer niedergegangen, auf und ab, und habe mir das Hirn zermartert, wie ich mich ihr nähern, wie ich alles gutmachen, wie ich ihr helfen könnte … denn daß sie mich nicht mehr vorlassen würde in ihrem Haus, das war mir gewiß … ich hatte das Lachen noch in allen Nerven und das Zucken des Zornes um ihre Nasenflügel … stundenlang, wirklich stundenlang bin ich so die drei Meter des schmalen Zimmers auf und ab gerannt … es war schon Tag, es war schon Vormittag …
    Und plötzlich schmiß es mich hin zu dem Tisch … ich riß ein Bündel Briefblätter heraus und begann ihr zu schreiben … alles zu schreiben … einen hündisch winselnden Brief, in dem ich sie um Vergebung bat, in dem ich mich einen Wahnsinnigen, einen Verbrecher nannte … in dem ich sie beschwor, sich mir anzuvertrauen … Ich schwor, in der nächsten Stunde zu verschwinden, aus der Stadt, aus der Kolonie, wenn sie wollte: aus der Welt … nur verzeihen sollte sie mir und mir vertrauen, sich helfen lassen in der letzten, der allerletzten Stunde … Zwanzig Seiten fieberte ich so hinunter … es muß ein toller, ein unbeschreiblicher Brief wie aus einem Delirium gewesen sein, denn als ich aufstand vom Tisch, war ich in Schweiß gebadet … das Zimmer schwankte, ich mußte ein Glas Wasser trinken … Dann erst versuchte ich den Brief noch einmal zu überlesen, aber mir graute nach den ersten Worten … zitternd faltete ich ihn zusammen, faßte schon ein Kuvert … Da plötzlich fuhrs mich durch. Mit einem Male wußte ich das wahre, das entscheidende Wort. Und ich riß noch einmal die Feder zwischen die Finger und schrieb auf das letzte Blatt: ›Ich warte hier im Strandhotel auf ein Wort der Verzeihung. Wenn ich bis sieben Uhr keine Antwort habe, erschieße ich mich.‹
    Dann nahm ich den Brief, schellte einem Boy und hieß ihn das Schreiben sofort überbringen. Endlich war alles gesagt – alles!«

    Etwas klirrte und kollerte neben uns. Mit einer heftigen Bewegung hatte er die Whiskyflasche umgestoßen; ich hörte, wie seine Hand ihr suchend am Boden nachtastete und sie dann mit einem plötzlichen Schwung faßte: in weitem Bogen warf er die geleerte Flasche über Bord. Einige Minuten schwieg die Stimme, dann fieberte er wieder fort, noch erregter und hastiger als zuvor.
    »Ich bin kein gläubiger Christ mehr … für mich gibt es keinen Himmel und keine Hölle … und wenn es eine gibt, so fürchte ich sie nicht, denn sie kann nicht ärger sein als jene Stunden, die ich von vormittags bis abends erlebte … Denken Sie sich ein kleines Zimmer, heiß in der Sonne, immer glühender im Mittagsbrand … ein kleines Zimmer, nur Tisch und Stuhl und Bett … Und auf diesem Tisch nichts als eine Uhr und einen Revolver und vor dem Tisch einen Menschen … einen Menschen, der nichts tut als immer auf diesen Tisch, auf den Sekundenzeiger der Uhr starren … einen Menschen, der nicht ißt und trinkt und nicht raucht und sich nicht regt … der immer nur … hören Sie: immer nur, drei Stunden lang … auf den weißen Kreis des Zifferblattes starrt und auf den Zeiger, der tickend den Kreis umläuft … So … so … habe ich diesen Tag verbracht, nur gewartet, gewartet, gewartet … aber gewartet wie … wie eben ein Amokläufer etwas tut, sinnlos, tierisch mit dieser rasenden, geradlinigen Beharrlichkeit.
    Nun … ich werde Ihnen diese Stunden nicht schildern … das läßt sich nicht schildern … ich verstehe ja selbst nicht mehr, wie man das erleben kann ohne … ohne wahnsinnig zu werden … Also … um drei Uhr zweiundzwanzig Minuten … ich weiß es genau, ich starrte ja auf die Uhr … klopfte es plötzlich an die Tür … Ich springe auf … springe, wie ein Tiger auf seine Beute springt, mit einem Ruck durch das ganze Zimmer zur Tür, reiße sie auf … ein ängstlicher kleiner Chinesenjunge steht draußen, einen zusammengefalteten Zettel in der Hand, und während ich gierig danach greife, huscht er schon weg und ist

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