Meisternovellen
Sollte unser Freund in seiner Hitzigkeit eine Figur danebengestoßen haben, ein Feld zu weit oder zu nah? Durch unser Schweigen aufmerksam gemacht, starrte jetzt auch Dr.B. auf das Brett und begann heftig zu stammeln:
»Aber der König gehört doch auf f 7 … er steht falsch, ganz falsch. Sie haben falsch gezogen! Alles steht ganz falsch auf diesem Brett … der Bauer gehört doch auf g 5 und nicht auf g 4 … das ist ja eine ganz andere Partie … Das ist …«
Er stockte plötzlich. Ich hatte ihn heftig am Arm gepackt oder vielmehr ihn so hart in den Arm gekniffen, daß er selbst in seiner fiebrigen Verwirrtheit meinen Griff spüren mußte. Er wandte sich um und starrte mich wie ein Traumwandler an.
»Was … was wollen Sie?«
Ich sagte nichts als »Remember!« und fuhr ihm gleichzeitig mit dem Finger über die Narbe seiner Hand. Er folgte unwillkürlich meiner Bewegung, sein Auge starrte glasig auf den blutroten Strich. Dann begann er plötzlich zu zittern, und ein Schauer lief über seinen ganzen Körper.
»Um Gottes willen«, flüsterte er mit blassen Lippen. »Habe ich etwas Unsinniges gesagt oder getan … bin ich am Ende wieder …?«
»Nein«, flüsterte ich leise. »Aber Sie müssen sofort die Partie abbrechen, es ist höchste Zeit. Erinnern Sie sich, was der Arzt Ihnen gesagt hat!«
Dr.B. stand mit einem Ruck auf. »Ich bitte um Entschuldigung für meinen dummen Irrtum«, sagte er mit seiner alten höflichen Stimme und verbeugte sich vor Czentovic. »Es ist natürlich purer Unsinn, was ich gesagt habe. Selbstverständlich bleibt es Ihre Partie.« Dann wandte er sich zu uns. »Auch die Herren muß ich um Entschuldigung bitten. Aber ich hatte Sie gleich im voraus gewarnt, Sie sollten von mir nicht zuviel erwarten. Verzeihen Sie die Blamage – es war das letzte Mal, daß ich mich im Schach versucht habe.«
Er verbeugte sich und ging, in der gleichen bescheidenen und geheimnisvollen Weise, mit der er zuerst erschienen. Nur ich wußte, warum dieser Mann nie mehr ein Schachbrett berühren würde, indes die andern ein wenig verwirrt zurückblieben mit dem ungewissen Gefühl, mit knapper Not etwas Unbehaglichem und Gefährlichem entgangen zu sein. »Damned fool!« knurrte McConnor in seiner Enttäuschung. Als letzter erhob sich Czentovic von seinem Sessel und warf noch einen Blick auf die halbbeendete Partie.
»Schade«, sagte er großmütig. »Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.«
Über Stefan Zweig
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren, lebte von 1919 bis 1934 in Salzburg, emigrierte von dort nach England und 1941 nach Brasilien. Sein episches Werk machte ihn ebenso berühmt wie seine historischen Miniaturen und die biographischen Arbeiten. Im Februar 1942 schied er in Petrópolis, Brasilien, freiwillig aus dem Leben. Posthum erschienen seine Erinnerungen, das von einer vergangenen Zeit erzählende Werk »Die Welt von Gestern«.
Über dieses Buch
»Stefan Zweigs Novellen wenden die neu gewonnenen Erkenntnisse der zeitgenössischen Psychologie in einem biegsamen, fast nervös vibrierenden Stil auf ihre Themen an.« Richard Friedenthal
Impressum
Copyright by Herbert Reichner Verlag Wien 1938
Copyright by Bermann-Fischer Verlag A.B. Stockholm 1943/46
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH,
Frankfurt am Main 1960, 1970
Alle Rechte vorbehalten
Digitalisierung: pagina GmbH, Tübingen
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400249-1
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