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Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Titel: Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Ärmel nach oben und legt ihren Arm frei – einen Arm, der so weiß ist, dass er beinahe glüht. »Wir wollen«, erklärt sie langsam und deutlich, »unseren Sohn zurück.«

TEIL I

PRESSIA
Motten
    Im Empfangsraum des OSR-Hauptquartiers glühen ein paar selbst gebastelte Öllampen, die an Schnüren von den hohen, freiliegenden Deckenbalken hängen. Die Überlebenden haben sich auf Wolldecken und Matten gebettet und aneinandergeschmiegt, um sich gegenseitig zu wärmen. Gemeinsam strahlen ihre Körper eine feuchte Wärme aus, die im Zimmer hängen bleibt, obwohl die großen Fenster nicht vernagelt sind. In den leeren Fensterrahmen flattern die Überreste fadenscheiniger Vorhänge. Der Wind treibt den ersten wirbelnden Schnee herein, wirbelnden Schnee wie Hunderte gieriger Motten, die es kaum erwarten können, sich gegen die hellen Lichter zu schmettern.
    Draußen ist es dunkel, aber der Morgen dämmert bald, und einige Frühaufsteher erwachen bereits. Pressia ist wieder die ganze Nacht aufgeblieben. Manchmal verliert sie sich so sehr in ihrer Arbeit, dass sie die Zeit vergisst. Sie hat einen mechanischen Arm in der Hand, den sie gerade aus Fundstücken gebaut hat, die sie von El Capitán bekommen hat: eine silberne Zange, ein Gelenk mit Kugellager, ein altes Stromkabel zum Festzurren, und dazu Lederbänder, die so abgemessen sind, dass sie den dürren Unterarm des Jungen exakt umschließen. An einer Hand des Neunjährigen sind alle fünf Finger miteinander verschmolzen, fast als hätten sie Schwimmhäute. Die Hand ist nicht mehr zu gebrauchen. Mit heiserer Stimme flüstert Pressia seinen Namen: »Perlo? Bist du wach?«
    Sie schleicht sich durch die murrenden, schläfrigen Überlebenden. Ein scharfes, zischendes Fauchen ertönt. »Ruhe!«, sagt eine Frauenstimme. Unter dem Mantel der Frau regt sich etwas, kurz darauf schiebt sich der seidenschwarze Kopf einer Katze aus ihrem Kragen. Ein Baby schreit, irgendjemand flucht. Und ein Mann stimmt ein Lied an, ein Schlaflied … Die Geistermädchen, die grausigen Mädchen, die Geistermädchen. Wer kann sie vor dieser Welt retten? Vor dieser Welt? Der breite Fluss, die schäumende Strömung, die lockende Strömung, die schäumende Strömung … Das Baby beruhigt sich wieder. Musik besitzt noch immer die Macht, Menschen zu besänftigen. Dazu sind selbst wir Unglückseligen noch fähig – Lieder erklingen zu lassen , denkt Pressia. Sie wünschte, die Bewohner des Kapitols wären sich dessen bewusst. Ja, wir sind verwildert, aber trotz allem tragen wir noch diese erstaunliche Zärtlichkeit, Güte und Schönheit in uns. Wir sind Menschen. Fehlbare, aber immer noch gute Menschen. Oder?
    »Perlo?«, ruft sie noch einmal, den künstlichen Arm fest an die Brust gedrückt. Wenn sie solche Menschenmassen durchquert, sucht sie jetzt manchmal nach ihrem Vater. Dabei kann sie sich nicht mal an sein Gesicht erinnern. Vor ihrem Tod hat Pressias Mutter ihr die pulsierenden Quadrate auf ihrer Brust gezeigt. Eines davon gehörte zu Pressias Vater – der Beweis, dass er die Bomben überlebt hatte. Aber natürlich ist er nicht hier. Wahrscheinlich ist er nicht mal auf diesem Kontinent – oder dem, was davon übrig ist. Und trotzdem kann Pressia nicht anders, trotzdem sucht sie immer wieder nach einem Überlebenden, der ihr zumindest ein bisschen ähnelt: mandelförmige Augen, schwarzes, glänzendes Haar. Natürlich ist es unvernünftig, immer noch zu glauben, dass sie ihn eines Tages finden könnte, aber sie kann es einfach nicht lassen.
    Sie hat das andere Ende des Empfangsraums erreicht. Nun steht sie vor einer Mauer, auf der Plakate über Plakate kleben. Auf den Plakaten ist nicht mehr die schwarze Klaue zu sehen, die die Überlebenden einst um ihre Haut fürchten ließ, sondern El Capitáns Gesicht, streng, mit ausgeprägtem Kinn. Sie lässt den Blick über die Reihe der Poster wandern. Ein Augenpaar neben dem anderen, und jeweils dahinter El Capitáns Bruder Helmud, ein undeutlicher Fleck. Über El Capitáns Stirn stehen die Worte: TÜCHTIG UND STARK? DANN KOMM ZU UNS. UNSER ZUSAMMENHALT IST UNSERE RETTUNG. El Capitán ist stolz auf den Spruch, er hat ihn sich selbst ausgedacht. Im Kleingedruckten am unteren Rand verspricht er, dem Kesseltreiben ein Ende zu machen – dem tödlichen Spiel der OSR-Soldaten, bei dem die Schwachen ausgemerzt und die Toten im Gebiet des Gegners abgeliefert werden sollen. Auch die Zwangsverpflichtung mit sechzehn Jahren gibt es nicht mehr. Stattdessen

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