Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Und erst dann wird die Zukunft Gestalt annehmen.
In der Tasche ihres Pullis schlägt Freedle mit den Flügeln. Pressia lässt den Zeigefinger über den Rücken der mechanischen Zikade gleiten. »Schhh«, flüstert sie. »Keine Angst.« Sie wollte Freedle nicht allein in ihrem kleinen Zimmer zurücklassen. Oder wollte sie nicht allein sein?
»Perlo!«, ruft sie. »Perlo!«
Endlich antwortet er. »Hier bin ich!« Er wieselt durch die Reihen der Überlebenden, bis er vor ihr steht. »Ist er fertig?«
Pressia geht in die Knie. »Mal sehen, ob er passt«, sagt sie, zieht die Ledermanschette über seinen Arm und zurrt sie mit dem Stromkabel fest. Mit seiner verschmolzenen Hand kann Perlo eine Tippbewegung ausführen. Sie fordert ihn auf, einen kleinen Hebel zu betätigen.
Perlo versucht es. Die Zange öffnet und schließt sich wieder. »Es funktioniert.« Sofort öffnet und schließt er sie noch einmal. Und noch einmal.
»Perfekt ist es nicht«, stellt Pressia fest. »Aber ich glaube, es bringt schon was.«
»Danke!«, ruft der Junge so laut, dass eine der Gestalten auf dem Boden ärgerlich zischt. Er senkt die Stimme. »Vielleicht kannst du auch mal was für dich selbst basteln.« Seine Augen wandern zu dem Puppenkopf an ihrer Hand. »Vielleicht könnte man irgendwas …«
Pressia kippt den Puppenkopf nach vorne, um die Puppe blinzeln zu lassen. In das eine Auge ist etwas Asche eingedrungen, sodass es langsamer, verzögert zwinkert. »Ich fürchte, da kann man nichts machen«, antwortet sie. »Aber ich komm schon klar.«
Ein durchdringendes Flüstern – die Mutter des Jungen ruft nach ihm. Er fährt herum, reckt seinen neuen Arm stolz in die Höhe und saust zu ihr, um ihn vorzuführen.
Da donnert ein ferner Schuss, gefolgt von bebendem Nachhall. Instinktiv kauert Pressia sich auf den Boden und greift in die Tasche, um Freedle abzuschirmen. Sie holt ihn heraus und hält ihn vor die Brust, Perlos Mutter drückt ihren Sohn an sich. Wahrscheinlich war es nur ein OSR-Soldat, der auf verdächtige Schatten gefeuert hat. Fehlschüsse sind an der Tagesordnung, das weiß Pressia. Und trotzdem zieht sich ihr Brustkorb um ihr Herz zusammen, wegen Perlo und seiner Mutter und dem Schuss – alles zusammen ruft ihr das Gewicht des Gewehrs in ihren Händen in Erinnerung. Wie sie das Gewehr gehoben hat, wie sie gezielt hat. Wie sie abgedrückt hat. Auch jetzt lässt der Knall ihre Ohren klingeln, auch jetzt steigt der blutige Nebel vor ihren Augen auf und raubt ihr die Sicht. Das Rot erblüht vor ihren Augen wie die grellen Blumen, die in den Trümmerfeldern aus dem Boden schießen. Sie hat abgedrückt. Sie weiß nicht mehr, ob es die richtige Entscheidung war, sie kann ihre Gedanken nicht ordnen. Aber ihre Mutter ist tot. Tot. Und Pressia hat abgedrückt.
Schnell geht sie weiter. Sie hält sich dicht am Rand des Empfangsraums, an der endlosen Reihe der Plakate, die zerbrechliche Zikade in der hohlen Hand. Als sie an einem Fenster vorbeikommt, wirft sie einen zögerlichen Blick nach draußen.
Wind. Schnee. Wolken wie Ascheklumpen, die über den Himmel huschen. Ein heller Stern, wie man ihn nur selten sieht, und darunter der Waldrand, morsche, gekrümmte, verkümmerte Bäume. Sie kann die Uniformen der Soldaten erkennen, ab und zu auch das Glitzern einer Waffe oder eine Atemwolke, die in der kalten Luft über dem Hang aufsteigt wie ein zarter Schleier. Sie sieht das Gesicht ihrer Mutter auf dem Waldboden, und im nächsten Moment ist es verschwunden. Ausgelöscht.
Ihre Augen spähen über die Soldaten hinweg, verhaken sich in den Bäumen. Lauert da draußen irgendetwas? Irgendetwas, das ins Hauptquartier eindringen will? Sie stellt sich vor, wie die Spezialkräfte im Schnee kauern. Brauchen sie überhaupt Schlaf? Sind sie teils Kaltblüter, mit einer dünnen Eisschicht auf der Haut? Es ist still, viel zu still. Die Nervosität ist zu spüren, wie eine gespannte Feder. Vor drei Tagen hat es geschneit, zuerst nur ein Hauch Puderschnee, dann immer stärker. Jetzt ist das Gras vereist, eine dunkle, spiegelglatte Fläche, auf der mindestens acht Zentimeter Schnee liegen. Und die Flocken rieseln noch immer herab.
Irgendjemand packt sie am Ellenbogen. Pressia dreht sich um – es ist Bradwell, mit der doppelten Narbe, die sich über seine Wange zieht, den dunklen Wimpern, den vollen, in der Kälte aufgeplatzten Lippen. Sie betrachtet seine raue, gerötete Hand, seine breiten, zerschrammten Fingerknöchel. Schöne Fingerknöchel.
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