Nacht ohne Schatten
1951
Die Männer kommen vor Tagesbeginn. Tjuollda hört sie zuerst, lauscht mit gespitzten Ohren zum Fenster hin.
»Was denn, mein Katerchen?« Sie stemmt sich hoch, blickt nun ebenfalls in die Schwärze hinter dem Fenster. Nichts ist dort zu sehen, nichts zu hören, nur das leise Ãchzen der vereisten Bäume. Oder täuscht sie sich?
Sie schichtet Holz in den Ofen, und die knisternde Gier der Flammen vertreibt die Stille, die ihr auf einmal so bedrohlich erscheint. Lichtpunkte huschen über die Deckenbalken, unstet wie das Polarlicht am Abend zuvor. Grünes Polarlicht, ein Gruà der Toten.
Tjuollda wird unruhig, springt vom Bett und duckt sich unter die Ofenbank. Tjuollda, ihr Trost, als sie die Tochter holten. Ihr Halt, als sich Nachbarn und Freunde nicht mehr in ihre Nähe wagten.
Es ist vorbei, jetzt holen sie mich. Mit eisiger Sicherheit weià sie, dass sie gleich stirbt. Schläge am Himmel, sich näherndes Donnern, so laut, dass es das Knacken des Feuers übertönt. Sie hat geglaubt, hier sei sie sicher. Wie sehr uns der Drang zu leben verblendet, denkt sie.
Die Scheinwerfer des Hubschraubers erfassen die Kate, geistern über die Birken, sinken aufs Eis. Sie hat keine Zeit mehr, drückt gegen den Schrank, bis sie die lose Bodendiele darunter zu fassen bekommt. Sie wirft die Trommel und den Umhang hinunter ins Schwarz. Frevel, Frevel, schreit alles in ihr. Doch sie braucht die Hoffnung, dass ihre Tochter dieses Vermächtnis finden wird.
Sie trägt Tjuollda zur Tür, bittet ihn, zu fliehen. Jammernd krallt er sich an ihr fest. Und wo sollte er auch hin, wer würde ihn retten? Sicher nicht diese bis zur Besinnungslosigkeit verängstigten Kreaturen in den Blockhäusern neben ihr.
Vielleicht kommen sie gar nicht zu mir! Die alte Hoffnung, Giftfrucht des Terrors. Stillhalten und beten, dass es die anderen trifft. Sie ruft ihre Schutzgeister, den Raben, den Fuchs. Sie summt ihre Lieder, schlägt den vertrauten Rhythmus aufs Knie. Aber die Schutzgeister lösen sich einfach auf, als die Männer die Tür der Kate eintreten, sie aufs Bett stoÃen und schänden und dem schreienden Tjuollda den Hals umdrehen.
Träumt sie, wacht sie, ist sie schon tot? Sie weià es nicht mehr, als die Männer sie in den Laderaum des Hubschraubers stoÃen. Junge Männer mit toten Augen, die vor ihr ausspucken, sie beschimpfen und lachen, als die Maschine vom Eis abhebt.
Das Land, das einmal ihr Land war, tief unter ihr. WeiÃer Rauch, der von ihrer Kate aufsteigt. Verdreckte Stiefel, die sie zur offenen Tür des Hubschraubers hintreten. Der Hohn der Männer, als sie sie in den Himmel stoÃen: »Wenn du Schamanin bist, flieg!«
Sie schreit und kann nicht schreien. Fliegt und kann nicht fliegen. Sie breitet die Arme aus und stürzt durch die Nacht, quälend langsam und doch viel zu schnell.
1 . T EIL
Verlangen
desire is hunger is the fire I breathe
love is a banquet on which we feed
(â¦)
come on now try and understand
the way I feel under your command
BECAUSE THE NIGHT
Patti Smith Group
Samstag, 7. Januar
»Jetzt weiÃt du, wie es ist.«
Der Satz ist rätselhaft, ohne Zusammenhang. Es gibt keinen Sprecher zu ihm, kein Gesicht. Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger liegt ganz still. Jemand hat diesen Satz zu ihr gesagt, vielleicht sogar jemand, den sie kennt. Der Satz muss einen Sinn ergeben. Sie versucht die Traumbilder noch einmal heraufzubeschwören. Sie denkt an die Akten, die sich in ihrem Büro stapeln, auf jeder freien Fläche. Dann an die unselige Weihnachtstombola. Es hilft nichts. Sie kommt nicht einmal darauf, was dieses »Jetzt« bedeuten mag, das nach Schadenfreude klingt, beinahe wie eine Drohung.
Sie zieht ihren Bademantel über und füllt in der Küche ein Glas mit Leitungswasser. 2:11 Uhr. Sie ist nicht erstaunt, als das Telefon zu klingeln beginnt. Eher ist es so, als habe sie darauf gewartet, ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Krieger?«
»Henning, Kriminalinspektion. Tut mir leid.«
»Schon okay.« Sie sucht unter der Zeitung auf dem Küchentisch nach Notizbuch und Stift, während der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung weiterspricht.
»Ein Toter an der S-Bahn-Haltestelle Gewerbepark. Wahrscheinlich der Fahrer. Könnte ein Unfall sein. Vermutlich aber nicht.«
»Schicken Sie mir einen Wagen.«
Unten auf der StraÃe empfängt sie Nieselregen,
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