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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Formen, fest in den Marmor der Geschichte eingemeißelte Episoden machten die Welt für mich zu einem Bilderbuch mit leuchtenden Farben, in dem ich mit Wonne blätterte.
    Wenn ich so großes Vergnügen am Lernen fand, so kam es auch daher, dass mein Alltagsleben mich nicht mehr befriedigte. Ich wohnte in Paris in einer ganz von Menschenhand geschaffenen Dekoration: Sie bestand aus Straßen, Häusern, Trambahnen, Laternenpfählen und anderen der Nützlichkeit dienenden Gegenständen. Auf die Plattheit bloßer Begriffe zurückgeführt, entsprachen die Dinge einzig ihrer Funktion. Der Garten des Luxembourg mit den Gebüschgruppen, die man nicht berühren durfte, den Rasenflächen, deren Betreten verboten war, stellte für mich nichts weiter als einen Spielplatz dar. Hier und da freilich ahnte man durch einen Spalt, der sich auftat, hinter der bemalten Leinwand etwelche verborgene Tiefen. Die Schächte der Metro flohen ins Unendliche und schienen bis ins heimliche Herz der Erde vorzustoßen. Am Boulevard Montparnasse befand sich an der Stelle des heutigen Cafés ‹La Coupole› die Kohlenniederlage ‹Juglar›, aus der Männer mit geschwärzten Gesichtern und Jutesäcken auf dem Kopf zum Vorschein kamen: Unter den Haufen von Koks und Anthrazit herrschte ebenso wie im Ruß der Kamine auch bei hellem Tageslicht jene Finsternis, die einst Gott vom Licht geschieden hatte. Doch war sie durchaus meinem Zugriff entzogen. In dem umhegten Dasein, in das ich eingeschlossen war, gab es nicht vieles, was mich erstaunte, denn ich wusste noch nichts davon, wo die Macht des Menschen beginnt, noch wo sie ein Ende hat. Flugzeuge, lenkbare Luftschiffe, die zuweilen am Pariser Himmel erschienen, erregten weit mehr die Bewunderung der Erwachsenen als die meinige. Was Zerstreuungen anbelangt, so wurden mir solche kaum je geboten. Meine Eltern nahmen mich zum Einzug des englischen Königspaares mit an die Champs-Élysées; ich war manchmal Zeuge von Fastnachtsumzügen und sah den Trauerzug von Galliéni mit an. Ich nahm an Prozessionen teil und kniete vor Ruhealtären. Fast niemals wurde ich in den Zirkus geführt, selten zum Puppentheater. Ein paar Spielsachen, die ich besaß, amüsierten mich zwar, aber nur eine kleine Zahl nahm mich wirklich gefangen. Gern heftete ich meine Augen auf das Stereoskop, das zwei fotografische Platten zu einer räumlichen Szene umschuf, oder auf das Kineoskop, in dem ein rotierender Streifen von unbeweglichen Bildern den Eindruck eines galoppierenden Pferdes erzeugte. Man schenkte mir auch Albums, die mit einer Daumenbewegung lebendig zu werden schienen: Das kleine Mädchen, das auf den Blättern zunächst in seiner Haltung erstarrt zu sein schien, begann auf einmal zu hüpfen, der Boxer fing zu boxen an. Schattenspiele, Projektionen: Was mich bei allen optischen Wundern interessierte, war, dass sie unter meinen Augen immer wieder von neuem entstanden. Alles in allem konnten die bescheidenen Schätze meiner Stadtkindexistenz nicht mit denen rivalisieren, die meine Bücher bargen.
    Alles das änderte sich, wenn ich die Stadt verließ und mich unter Tiere und Pflanzen, in die Natur mit ihren zahllosen verborgenen Möglichkeiten versetzt sah.
    Wir verbrachten jeweils den Sommer im Limousin bei Papas Familie. Mein Großvater hatte sich auf einen Besitz in der Nähe von Uzerche zurückgezogen, den sein Vater erworben hatte. Er trug einen weißen Backenbart, eine Mütze, das Bändchen der Ehrenlegion und summte den ganzen Tag Melodien vor sich hin. Er nannte mir die Namen der Bäume, der Blumen und der Vögel. Pfauen schlugen ihr Rad vor dem mit Glyzinien und Bignonien bewachsenen Wohngebäude. Im Vogelhaus bewunderte ich Goldfasanen und Kardinäle mit rotem Kopf. Von künstlichen Wasserfällen unterbrochen und mit Seerosen bestanden, umschlang ein Wasserlauf, in dem Goldfische schwammen, mit seinen Fluten eine winzige Insel, die durch zwei Knüppelholzbrücken mit dem Lande verbunden war. Zedern, Wellingtonien, Blutbuchen, japanische Zwergbäumchen, Trauerweiden, Magnolien, Araukarien, immergrüne Pflanzen und solche, die sich im Herbst entlaubten, Baumgruppen, Gebüsche, Unterholz – das alles gab es in diesem Park, der nicht groß, aber doch so vielseitig war, dass ich mit seiner Erforschung niemals zu Ende kam. Wir verließen ihn um die Mitte der Ferien, um Papas Schwester zu besuchen, die mit einem Grundbesitzer in der Umgegend verheiratet war und zwei Kinder hatte. Sie holten uns mit dem ‹großen Break›

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