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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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ab, der von vier Pferden gezogen wurde. Nach dem Mittagessen in der Familie ließen wir uns auf den blauen Lederbänken nieder, die nach Staub und Sonne rochen. Mein Onkel ritt neben uns her. Nach einer Fahrt von zwanzig Kilometern waren wir in La Grillère. Ein Park, der ausgedehnter und naturhafter war als der von Meyrignac, dabei aber einförmiger, umgab ein hässliches, von Türmchen gekröntes, schindelgedecktes Schloss. Tante Hélène begegnete mir mit völliger Gleichgültigkeit. Onkel, vielmehr ‹Tonton› Maurice, schnurrbärtig, immer in hohen Stiefeln und mit der Reitpeitsche in der Hand, wirkte eher erschreckend auf mich. Doch war ich gern mit Robert und Madeleine zusammen, die fünf und drei Jahre älter waren als ich. Wie bei meinen Großeltern durfte ich auch bei meiner Tante beliebig auf dem Rasen herumlaufen und alles mit Händen berühren. Wenn ich im Boden grub, den Lehm knetete, unter meinen Füßen pralle Schoten zertrat, lernte ich, was weder Bücher noch Lehrmeister uns vermitteln. Ich machte Bekanntschaft mit Klee und Hahnenfuß, mit Phlox und dem leuchtenden Blau der Volubilis, dem Schmetterling, dem Sonnenkäferchen, dem Glühwurm, dem Tau, den Spinnweben und Marienfäden; ich machte die Erfahrung, dass das Rot des Stechapfels röter als das des Kirschlorbeers oder der Eberesche ist, dass der Herbst die Pfirsiche rötet und das Laub kupferfarben tönt, dass die Sonne am Himmel auf- und niedergeht, ohne dass man sie jemals sich bewegen sieht. Der Überschwang an Farben und Düften berauschte mich. Überall, im grünen Fischwasser, im Gewoge der Wiesen, unter dem sägeblättrigen Farnkraut, in der Tiefe des Unterholzes, verbargen sich Schätze, die ich zu entdecken brannte.
     
    Seitdem ich zur Schule ging, nahm mein Vater an meinen Erfolgen, meinem Fortschritt mit Interesse teil; er nahm nun einen größeren Raum in meinem Leben ein. Es kam mir vor, als gehöre er einer rareren Gattung als die übrigen Menschen an. In dieser Zeit der Bärte und der Bacchantinnen überraschte sein glattrasiertes Gesicht mit dem ausdrucksvollen Mienenspiel; seine Freunde meinten, er sehe Rigadin gleich. Niemand in meiner Umgebung war so komisch, so interessant, niemand glänzte wie er; niemand hatte so viele Bücher gelesen, wusste so viele Gedichte auswendig oder diskutierte mit solcher Leidenschaft. Mit dem Rücken an den Kamin gelehnt, redete er viel und mit vielen Gesten; alle hörten ihm zu. Bei Familienzusammenkünften spielte er stets die erste Geige: Er rezitierte Monologe oder
Le Singe
von Zamacoïs und fand damit überall Beifall. Sein originellster Zug bestand darin, dass er in seinen Mußestunden gern Komödie spielte; wenn ich ihn auf Fotografien als Pierrot, als Cafékellner, als Soldaten oder Tragödin verkleidet sah, kam er mir wie eine Art von Zauberer vor; erschien er in Kleid und weißer Schürze, ein Häubchen auf dem Kopf und mit weit aufgerissenen blauen Augen in der Rolle einer idiotischen Köchin mit Namen Rosalie, musste ich Tränen lachen.
    Alljährlich verbrachten meine Eltern drei Wochen in Divonne-les-Bains bei einer Liebhabertruppe, die auf der Bühne des Kasinos ihre Vorstellungen gab; sie sorgten für das Amüsement der Sommergäste, und der Direktor des Grandhotels gab ihnen gratis Quartier. Im Jahre 1914 sollten wir, Louise, meine Schwester und ich, in Meyrignac auf sie warten. Wir fanden dort meinen Onkel Gaston, Papas ältesten Bruder, und Tante Marguerite vor, deren Blässe und Magerkeit einschüchternd auf mich wirkten, ferner meine Cousine Jeanne, die ein Jahr jünger war als ich. Meine Schwester und Jeanne begaben sich gefügig unter meine Tyrannei. In Meyrignac spannte ich sie vor einen kleinen Wagen, und dann zogen sie mich in flottem Trab durch die Alleen des Parks. Ich erteilte ihnen Unterricht und verleitete sie zu Eskapaden, die ich aber wohlweislich auf der Zufahrtstraße zum Hause wieder beendete. Eines Morgens, als wir im Holzschuppen zwischen den frischen Sägespänen spielten, gab es auf einmal Alarm: Der Krieg war erklärt. Ich hatte das Wort ein Jahr zuvor in Lyon zum ersten Male gehört. In Kriegszeiten, hatte man mir gesagt, bringen die Leute andere Leute um, und ich hatte mich gefragt: Wohin entfliehe ich dann? Im Laufe des Jahres hatte Papa mir erklärt, Krieg bedeute den Einfall von Fremden in ein Land; von da an fürchtete ich die zahllosen Japaner, die damals an den Straßenecken Fächer und Lampions verkauften. Aber nein. Unsere Feinde waren die

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