Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
des Hotels empfand sie deutlich, dass es um sie ging. Um Kelvin und das noch Ungeborene. Sie waren es, die sie in Sicherheit bringen musste. Die Unschuldigen.
Sicherheit?, dachte sie. Was denn für eine Sicherheit? Was sind das für verlogene Lösungen, die mein Bewusstsein bereit hält? War ist das für ein Hirngespinst?
Und dann: die Unschuldigen? Ja, das fühlte sie zumindest. Das war ein richtiger Gedanke, genau sie waren es, die sie schützen musste. Warum sonst sollte sie weiterleben? Warum sich überhaupt noch eine Sekunde länger darum sorgen, weiterzukämpfen?
Aber wie soll ich das schaffen?, dachte sie. Wie um alles in der Welt soll ich das schaffen?
Und erneut wünschte sie, dass man doch alles einfach hätte abschalten können. Schluss machen. Vielleicht wäre das die beste Alternative, auch für die Unschuldigen? Das letztendliche Nichts. Sie blieb eine Weile liegen und lauschte der Klimaanlage und Kelvin. Wenn das Universum kollabieren will, dann soll es das jetzt tun, dachte sie. In diesem Augenblick.
Doch nichts geschah. Sie öffnete die Augen und drehte den Kopf. Die kleinen roten Ziffern auf dem Fernsehapparat schlugen soeben von 23.59 auf 00.00 um. Mitternacht, dachte sie. Kann es noch mehr Mitternacht in diesem Leben geben, als es schon gibt?
Wahrscheinlich nicht. Hoffentlich nicht.
Und dennoch … dennoch lag sie hier. Sie hatte sich zumindest hierher begeben können. Das war eine Tatsache, die nicht zu leugnen war. Sie befanden sich hier. Genau hier. Wenn sie an die vergangenen vierundzwanzig Stunden dachte, war das fast unfassbar. Sie lag hier mit ihren Kindern in der illusorischen Gebärmutter der Nacht, und bis jetzt hatte sie noch die Fäden in der Hand. Oder nicht?
Doch, natürlich. Noch war alles möglich. Die Taschen standen reisefertig an der Tür, sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie auszupacken. Saubere Unterwäsche für sich und für Kelvin hatte sie in der Schultertasche. Tickets, Pass und Geld.
Eine Kulturtasche und Walters Buch. Das war alles, was sie brauchte. Und den Mut, noch ein wenig durchzuhalten. Lass diese Stunden sich ausdehnen, dachte sie. Lass uns hier lange bleiben, lass diese Stunden ganz langsam verrinnen, ich brauche Zeit, um Kraft für den morgigen Tag zu sammeln. Schlaf und noch mehr Schlaf.
Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass das alles gar nichts mit ihr zu tun hatte. Ihr gesamter Körper war eine einzige tickende, nervöse Bombe, wahrscheinlich war es reine Einbildung zu glauben, es wäre überhaupt möglich, in diesem Zustand schlafen zu können.
Sie setzte sich auf. Tappte hinüber zum Schreibtisch und schaltete dort die Lampe ein. Kelvin reagierte nicht. Kelvin reagierte auf fast nichts, und gerade jetzt war sie dankbar dafür.
Sie holte Walters Manuskript aus der Tasche. Walter, mein Bruder, dachte sie, ich wünschte … ich wünschte, wir wären wieder Kinder, und du wärst hier bei mir. Dann würde alles ganz anders kommen. Es hätte ganz anders kommen müssen. Es macht keinen Sinn, dass es so für uns gekommen ist.
Mit dem Leben und allem. Du hast deines verloren, weil du einmal in deiner Jugend ein Mädchen abgewiesen hast, ein unbedachter Moment … sie ist viele Jahre später zurückgekommen und hat dich umgebracht. Wenn es wirklich stimmte, was die Polizei erzählte.
Handlung und Konsequenz daraus. Ursache und Wirkung. Ihr eigenes Leben besaß sie noch, und welche Konsequenzen ihr unbedachtes Handeln letztendlich nach sich ziehen würde, das war nicht so einfach zu sagen. Aber es sah finster aus, sehr finster.
Sei heute Nacht bei mir, Walter, bitte, bat sie. Hilf mir, die Stunden zu überstehen und gib mir ein Wort mit auf den Weg. Walter, mein Bruder.
Zu ihrer eigenen Verwunderung hatte sie die Hände gefaltet und saß tatsächlich murmelnd da.
Aber es war keine Antwort zu hören, weder in ihrem Inneren noch draußen in der Nacht. Sie beugte sich über den kleinen Lichtkegel, öffnete den Manuskriptstapel auf gut Glück und begann zu lesen.
Denn mit dem Leben ist es wie mit unserer Zunge, schrieb er. In der Kindheit lieben wir das Süße, aber es ist das Bittere, das zu bejahen wir lernen müssen. Sonst werden wir nie vollwertige Menschen, und unsere Geschmacksknospen können sich nicht voll entwickeln.
Sie lehnte sich zurück und dachte eine Weile darüber nach. Welch eigenartige Worte er benutzte. Noch nie hatte sie ihn auf diese Art und Weise sprechen gehört. Und der Titel: Warum hieß das Buch Mensch ohne Hund ? Sie
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