Menschen und Maechte
Landsleute vor Deutschland gescheitert wäre wie acht Jahre zuvor der Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Kennedy hätte als Außenstehender
zur Einigung Europas vermutlich nur wenig beitragen können; sein früher gewaltsamer Tod beraubte Amerika aller positiver Einflußmöglichkeiten.
Trotzdem ist Kennedys Vision einer atlantischen Gemeinschaft, welche von einem amerikanischen und einem europäischen Pfeiler getragen werden sollte, heute aktueller als damals, zu Beginn der Verstrickung der USA in den Vietnamkrieg. Denn heute sind die objektiv nötigen Voraussetzungen gegeben: Die Europäische Gemeinschaft ist etabliert; England ist Mitglied; die französischen Vorbehalte gegen Deutschland sind einer weitgehenden beiderseitigen Sympathie gewichen; der Europäische Rat als europäisches Führungsorgan hat seit Beginn der achtziger Jahre seine Handlungsfähigkeit mehrfach bewiesen, er hat sogar die Grundlagen für ein gemeinsames Währungssystem geschaffen; die kollektive wirtschaftliche Kraft der EG-Mitgliedsstaaten, besonders ihre weltwirtschaftliche, alle anderen Staaten und Staatengruppierungen weit überragende Rolle gibt Europa heute potentiell ein unerhörtes politisches Gewicht; und schließlich sind inzwischen sogar – mit Ausnahme der nuklearen Waffen – alle quantitativen Voraussetzungen für eine selbständige und ausreichende Verteidigungskraft Westeuropas erfüllt.
Gleichwohl ist Westeuropa im Begriff, seine Chance zu verschlafen. Es könnte heute ein sein Schicksal selbst bestimmendes Subjekt der Weltgeschichte werden, wenn man so will: die vierte Weltmacht. Statt dessen verharren die westeuropäischen Staatslenker im Status-quo-Denken. Englands Staatslenker halten immer noch ihre »special relationship« zu den USA für wichtiger, obwohl sie dort inzwischen ziemlich in Vergessenheit geraten ist; in ihrem Denken ist der Ärmelkanal breiter als der Nordatlantik. Frankreichs Staatslenker erkennen bisher immer noch nicht, daß sie die nukleare Autonomie, die ihnen keiner neidet oder gar nehmen möchte, sehr wohl kombinieren könnten mit einer militärischen Führungsrolle vereinigter konventioneller Streitkräfte des kontinentalen Westeuropa – und dies durchaus im Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses. Italiens politische Klasse ist, trotz der überdurchschnittlich erfolgreichen Dynamik der italienischen Wirtschaft, von
verkappten außenpolitischen Minderwertigkeitskomplexen geplagt; sie erschöpft sich zu sehr in innenpolitischen Koalitionsspielereien. Die deutsche politische Klasse kommt nach Hitler, Auschwitz und Potsdamer Abkommen zur Führung nicht in Betracht; außerdem hindert sie ihr noch immer weitgehend ungeklärtes Verhältnis zur DDR und ihre teilweise übertriebene Angst vor der Sowjetunion und vor dem Kommunismus an konstruktivem gesamteuropäischem Denken.
So ist also Westeuropa gegenwärtig ohne Führung und ergibt sich deshalb auch weiterhin seiner sehr wohl begründeten Neigung zu Amerika. Dies bedeutet aber zugleich die Fortsetzung der Abhängigkeit von der Weltmacht USA. Und so wie wir von Zeit zu Zeit über die außenpolitische und gesamtstrategische Führung durch die Präsidenten Johnson, Carter und Reagan gestöhnt haben, so werden wir auch in Zukunft noch oft genug stöhnen. Japan ist in ähnlicher Lage wie wir Europäer. Aber anders als das in seiner Region isolierte Japan haben die Staaten Westeuropas eine Alternative, weil Europa durch mehr als tausend Jahre gemeinsamer kultureller Entfaltung, durch vierzig Jahre militärischer Kooperation, durch dreißig Jahre wirtschaftlicher Zusammenarbeit miteinander verbunden ist und weil seine Völker heute, anders als Japan in seiner Region, untereinander befreundet sind.
Es ist keineswegs auszuschließen, daß wir Westeuropäer versäumen, aus dieser historisch einzigartigen Situation zukunftweisende politische Konsequenzen zu ziehen. Daß wir versäumen, mit der zum Unfug gewordenen Agrarpolitik der EG aufzuräumen, einen wirklich homogenen gemeinsamen Markt zu schaffen, die elf Währungen innerhalb der EG schrittweise durch einen gemeinsamen ECU zu ersetzen, um dadurch allmählich einen Gleichlauf unserer nationalen Haushalts- und Finanzpolitiken zu erreichen und eine integrierte Verteidigungsarmee zu schaffen. Und daß wir versäumen, Westeuropa eine gemeinsame gesamtstrategische Führung zu geben.
Wenn wir Westeuropäer im heutigen Zustand verharren sollten, so werden die Menschen in Osteuropa
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