Menschen und Maechte
Klienten Moskaus bleiben und die Menschen in Westeuropa werden zu Klienten Washingtons
absinken – auch wenn sie es nur gelegentlich bemerken, nämlich immer dann, wenn es kritisch wird.
Mit Nordamerika verbindet uns Westeuropäer nicht nur das Ideal und die Praxis der Demokratie, sondern auch die Praxis der Marktwirtschaft und der Dispositionsfreiheit von Konsumenten wie Unternehmen, vor allem aber das Ideal und die Praxis der freiheitlichen Grundrechte des einzelnen. Es gibt sehr viele Übereinstimmungen und nur wenige Gegensätze. Das Nordatlantische Bündnis ist nicht nur Ausdruck geostrategischer Zweckmäßigkeit, sondern auch einer großen Gemeinsamkeit der Grundwerte.
Wie groß die Übereinstimmung der Grundwerte zwischen den beiden kommunistischen Weltmächten ist und sein wird, läßt sich nur schwer ausmachen. Mit Sicherheit ist von beiden keine Übereinstimmung mit Nordamerika und Europa zu erwarten, was die Grundwerte der Demokratie betrifft; deren Konzept ist nun einmal – auf klassisch-griechischen Grundlagen aufbauend – im westeuropäischen und im nordamerikanischen Kulturraum entwickelt worden, und der Versuch, es in andere kulturelle Räume zu transplantieren, ist wenig aussichtsreich. Davon zu trennen ist die Frage, ob die beiden kommunistischen Weltmächte den Grundwert der persönlichen Freiheit des einzelnen entdecken und entfalten können; die Voraussetzungen dafür sind unter den Russen und unter den übrigen europäischen Völkern der Sowjetunion größer, weil kulturgeschichtlich besser fundiert, als unter den asiatischen Völkern der Sowjetunion und unter den Chinesen und den Minderheiten der Volksrepublik China. Wir Europäer haben geschichtlich kaum eine Legitimation, uns deshalb für überlegen und erhaben zu halten. Denn die Kultur Chinas ist in Jahrtausenden entfaltet worden, in denen bei uns noch niemand lesen oder schreiben konnte; sie hat ihre eigenen Werte entwickelt. Das Prinzip der gewaltsamen Bekehrung, in Westeuropa geboren, war schon zur Zeit der Kreuzzüge ein schwerwiegender Verstoß gegen eigene Grundwerte.
Sehr wohl aber haben wir ein Recht, uns abzuschirmen und zu verteidigen gegen den Versuch, umgekehrt uns Europäern Fremdbestimmung oder gar diktatorische Gesellschafts- und Staatsformen aufzuzwingen. Unsere Erfolgsaussicht würde größer, wenn es
im 21. Jahrhundert nicht drei, sondern vier Weltmächte gäbe, wenn Westeuropa sich durch seinen Einigungsprozeß zur vierten Weltmacht entwickelte.
Auch in diesem Falle blieben die Erhaltung der eigenen Freiheit und des eigenen Friedens die überragenden Gebote. Durch geschickte Manipulation politischer, militärischer und wirtschaftlicher Macht allein können diese Gebote nicht erfüllt werden. Weitblick, Umsicht und eine vernunftgeleitete Gesamtstrategie Westeuropas müssen hinzukommen. Wenn wir – weit über dreihundert Millionen Westeuropäer – dies leisten könnten, dann hätten wir unser Gewicht in den Waagschalen der Welt. Auf diese Weise könnten wir unsere Selbstbestimmung erreichen – und auch den Europäern östlich von Elbe und Donau Hilfe und Rückhalt bieten, denn auch deren heutige Konstellation ist nicht für die Ewigkeit festgelegt.
Eine vernunftgeleitete, auf die Bewahrung des Friedens gerichtete Gesamtstrategie jedweder Weltmacht und jedweden Staates bedarf einer vernunftgeleiteten Diplomatie, das heißt: Sie bedarf des Willens, dem anderen zuzuhören und ihn und seine Interessen zu verstehen. Dabei ist Vorsicht geboten, aber ererbte Feindbilder sind von Übel.
Wer immer auf der anderen Seite des Verhandlungstisches sitzt, er ist ein Mensch mit menschlich-allzumenschlichen Vorzügen und Schwächen, die unseren eigenen Vorzügen und Schwächen sehr ähnlich sind. Er vertritt Interessen, die mit unseren eigenen keineswegs übereinstimmen. Aber auch er ist im Begriff zu lernen, daß Frieden und menschenwürdige Existenz nur gemeinsam zu haben sind. Wir alle, Amerikaner, Russen, Chinesen und Europäer, sind im Begriff zu lernen: Dies ist unsere gemeinsame Welt, in der wir aufeinander angewiesen sind. »One world«, so hat der Amerikaner Wendell Wilkie schon vor einem halben Jahrhundert gesagt. Für jeden von uns gilt: »to give is to have« – oder auf deutsch: Wer den Frieden in der Welt haben will, der muß auch bereit sein, dafür etwas herzugeben.
Abkürzungs- und Sachregister
ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile-Treaty, 1972; Vertrag zur Begrenzung ballistischer Raketensysteme zur Abwehr
Weitere Kostenlose Bücher