Menschen und Maechte
Soldat im Zweiten Weltkrieg glaubte, übergeordnete patriotische Pflichten erfüllen zu müssen. Dies Buch gibt Einsichten und Erfahrungen eines Mannes wieder, der als Kriegsgefangener, sechsundzwanzig Jahre alt, dank des hilfreichen Einflusses sehr viel älterer Kameraden zum Sozialdemokraten wurde und relativ spät im Leben – dank der westlichen Alliierten, vor allem Englands und Amerikas – erstmals selbst Demokratie erlebte.
Von Kants kategorischem Imperativ und von Marc Aurels Selbstbetrachtungen bin ich stärker geprägt worden als von Lassalle, Engels oder Marx; am stärksten aber formten mich ältere sozialdemokratische Zeitgenossen und Freunde. Die welterfahrenen Bürgermeister Max Brauer, Wilhelm Kaisen, Ernst Reuter und Herbert Weichmann und die Führer der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion Fritz Erler, Carlo Schmid und Herbert Wehner haben mich außenpolitisch erzogen; und was ich ökonomisch gelernt habe, verdanke ich zuallermeist Heinrich Deist, Karl Klasen, Alex Möller und Karl Schiller. Allerdings, muß ich hinzufügen, haben manche Frauen und Männer in den Führungen von Unternehmen und Gewerkschaften, in Wissenschaft und Publizistik, unter den Beamten und Soldaten sowie in den anderen Bundestagsfraktionen meiner Zeit – CDU, CSU und FDP – Einfluß auf mein Urteil und mein Handeln gehabt.
Ausländische Vorbilder und Beispiele haben mich ebenfalls stark beeinflußt. Ich habe die internationale Szenerie in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre als junger und unbedeutender Abgeordneter betreten – meiner hamburgischen Umwelt entsprechend als ein Anglophiler. Ende der fünfziger Jahre wurde mir dann immer deutlicher, wie eng unser Schicksal mit dem der Vereinigten Staaten
verzahnt ist. In den sechziger Jahren habe ich die deutsch-französische Freundschaft als unerläßliche Vorbedingung einer europäischen Friedensordnung erkannt. Diese Friedensordnung ist mir in all den Jahren als das Wichtigste erschienen.
Die Geschichte des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung hat es so gefügt, daß das deutsche Volk sich im geographischen Zentrum Europas entwickelt hat. Anders als viele der anderen Völker Europas lebt es weder auf einer Insel oder Halbinsel noch hinter natürlichen Barrieren, sondern in einem offenen, flachen Land, das vergleichsweise dicht besiedelt ist. Wir Deutschen haben mehr fremde Völker zu Nachbarn als irgendein anderes Volk in Europa. Auf der ganzen Welt werden höchstens Rußland und China von ähnlich vielen Nachbarn umgeben; aber Rußland und China sind Riesenreiche. Deutschland hingegen ist klein, und die deutsche Nation ist heute als Folge von Hitlers total geführtem und total verlorenem Kriege geteilt. Auschwitz und Holocaust werden im Bewußtsein unserer Nachbarn noch sehr lange ihre Schatten werfen – auf alles, was die nachgeborenen Deutschen unternehmen.
Ich war immer von dem natürlichen Recht jedes Volkes auf Selbstbestimmung überzeugt. Wenn je im Laufe des nächsten Jahrhunderts wir Deutschen wieder zueinanderfinden sollten, so wird dies allerdings nicht gegen den Willen unserer Nachbarn geschehen können, nicht ohne deren Vertrauen in den verläßlichen Willen und in die stetige Fähigkeit der Deutschen zu friedlicher Nachbarschaft.
Wenn Deutsche und Russen von guter, vertrauensvoller Nachbarschaft noch eine ziemliche Wegstrecke entfernt sind, so trifft nicht uns allein die Schuld. Viele Völker Europas, nicht nur wir Deutschen, fühlen sich von der sowjetischen Besetzung der östlichen Hälfte Europas bedroht – das gilt zumal für die osteuropäischen Völker. Das expansive Sicherheitsstreben der Sowjetunion wie auch ihr Streben nach internationaler Ausbreitung der kommunistischen Ideologie hat Unsicherheit und latente Bedrohung geschaffen; aus dieser Situation erwuchs die atlantische Allianz Westeuropas mit Nordamerika. Umgekehrt sehen sich manche Russen ebenfalls bedroht – zu Unrecht, jedenfalls soweit sie Deutschland
als mögliche Gefahrenquelle ansehen. Dennoch verstehe ich die Sowjetrussen durchaus, denn sie haben in Hitlers Krieg zwanzig Millionen Menschen verloren. Die Völker der Sowjetunion wünschen sich den Frieden genauso wie wir; diesen Wunsch teilen auch ihre kommunistischen Führer.
Wir Deutschen brauchen, jener latenten Bedrohung wegen, das Bündnis mit anderen demokratisch geordneten Staaten, mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit unseren westeuropäischen Freunden. Zugleich aber müssen wir um gute Nachbarschaft
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