Menschenskinder
Temperaturen wenn schon nicht garantierte, so doch wenigstens erwarten ließ. Die Sonne knallte dann auch wirklich schon morgens vom wolkenlosen Himmel, und als wir die neun Autos endlich nebeneinander auf dem Parkplatz aufgereiht hatten, stand uns immer noch der Aufstieg zur Kapelle bevor. Es hatte wochenlang kaum geregnet, jeder Schritt wirbelte Staubwölkchen auf, der Sand knirschte zwischen den Zähnen, und als wir endlich oben waren, sahen die Männer in ihren dunklen Anzügen alle einheitlich graubepudert aus. Rolf warf mir bitterböse Blicke zu; sein inzwischen der Altkleidersammlung zugeführtes »gutes Stück« war aus wesentlich leichterem Stoff gewesen.
»Gibt’s hier nichts zu trinken?«, krächzte Sven.
»Erst hinterher.« Zum wiederholten Mal wischte sich Sascha die Schweißtröpfchen von der Stirn. »Nicht mal ’ne Wasserleitung?« Nein, es gab auch keine Wasserleitung, nur Sonne, wenig Schatten und einen Pastor, der immer wieder seinen Kopf durch die Tür steckte und kopfschüttelnd wieder einzog, weil die Braut noch immer nicht da war. Dabei konnte er doch in der angenehm temperierten Kapelle warten, während wir draußen in der brütenden Hitze schmorten. Sascha nutzte die Zeit, uns mit der neuen Verwandtschaft bekannt zu machen. Wir schüttelten gegenseitig die Hände, murmelten den üblichen konventionellen Schwachsinn, wonach wir uns alle freuten, endlich die Bekanntschaft von X und Y zu machen, von denen wir ja schon so viel gehört hatten (hatten wir wirklich?), lobten oder missbilligten das Bilderbuchwetter – je nachdem, ob das jeweilige Gegenüber luftig gekleidet war oder allzu sichtbar transpirierte – und wünschten nichts sehnlicher, als endlich aus der Sonne herauszukommen. Mir taten sowieso schon die Füße weh, denn ich hatte nicht nur neue Schuhe an, sondern auch noch welche mit ganz dünnen Sohlen, Riemchen und hohen Absätzen, für die Schotterwege das reine Gift sind.
Nastassja hatte unserer ohnehin nicht gerade kleinen Familie zwei unverehelichte Brüder zugeführt sowie eine verheiratete Schwester nebst Gatten, mit der ich mich später unbedingt mal unterhalten musste, denn ihre drei Söhne benahmen sich so vorbildlich, wie ich das bei meinen beiden nie hingekriegt hatte. Stunden später, als die Knaben sogar untereinander immer noch friedlich blieben und sich nicht einmal verbal in die Haare gerieten, kam ich zu der Vermutung, dass das Bremer Klima der Erziehung männlicher Nachkommen wohl zuträglicher sein musste als das süddeutsche.
Die Brüder der Braut waren mit weiblicher Seitendeckung erschienen, die offenbar im Laufe des Tages eine recht kostspielige Vorliebe für Campari entwickelte, ein Getränk, für das ich gelegentlich auch etwas übrig habe, nur nicht gerade bei dreißig Grad im Schatten und erst recht nicht schon ab mittags um eins. Als Sascha Tage später die Abrechnung für seine Hochzeitsfeier bekommen hatte, rief er auch prompt an und sprach mir seine Hochachtung aus. »Siebzehn Campari orange, und man hat dir überhaupt nichts angemerkt!« Dabei hatte ich nicht mal einen getrunken!
Leider fehlten Nastassjas Eltern, denn die hätte ich wirklich gern kennen gelernt. Sascha hatte so begeistert von ihnen gesprochen; allerdings hatte die Mutter gesundheitliche Probleme, und allein hatte der Vater nicht kommen wollen. Verständlich, doch wozu gibt es Videofilme? Einer der drei selbst ernannten Kameramänner hatte immer seinen Apparat vor dem Gesicht.
Endlich Motorengeräusch, dann kam auch schon Steffis Cabrio in Sicht. Im Schneckentempo kroch der Wagen die Steigung herauf, hinten drin, sich am zurückgeschlagenen Verdeck festklammernd, die Braut mit den zwei Jungfern – ihren Töchtern aus erster Ehe. Nette Mädchen, noch verschüchtert gegenüber so vielen neuen Onkels und Tanten, doch im Laufe des Tages tauten sie auf, und inzwischen fühlen sie sich bei uns fast wie zu Hause.
Zwanzig Meter vor dem Eingang zur Kapelle hielt Steffi an. »Hier kommt schon wieder so ein Bombenkrater, kann mal jemand kontrollieren, ob ich da durchkomme? Ich hab nämlich Angst, dass ich mir den Auspuff abreiße. Wäre beim letzten Schlagloch beinahe passiert!« Sie sah ein bisschen gestresst aus, hatte nicht eingesehen, dass die Braut gefahren werden wollte – »die paar Meter … sie hat doch auch Beine bis zum Boden!« – doch ich konnte Nastassja verstehen. Es ist natürlich viel wirkungsvoller, graziös aus einem offenen Wagen zu steigen, als nach einem wenn auch
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