Meuterei auf der Deutschland
1. Einleitung
Eigenartige Gestalten mischen die politische Landschaft auf. Bei Landtagswahlen verhindern sie zuvor sicher geglaubte klare Mehrheiten für das Regierungs- wie das Oppositionslager im Bundestag. Ihre Positionen wirken merkwürdig naiv. Ihre Themen ungewohnt. Sie rütteln am Konsens zwischen den etablierten Parteien. Sie haben einen spielerischen Zugang zur Politik. Parteitage gleiten in endlose Geschäftsordnungsdebatten ab und wirken auf Außenstehende chaotisch. Wähler und Mitglieder scheinen auffallend jung. Auch habituell unterscheiden sie sich von den alten Berufspolitikern: Turnschuhe, Latzhosen, lange Haare und Bärte, flegelhaftes Auftreten in Talkshows und Parlamenten. Die Neuen sind anders, bisweilen sonderbar, aber genau das macht sie interessant. Ein Teil der Medien sympathisiert offen mit ihnen, wenngleich die eine oder andere Personalie einen üblen Beigeschmack hat. Schließlich finden sich in den Lebensläufen einiger Repräsentanten braune Sprenkel.
Nein, die Rede ist hier nicht von den Piraten, sondern von den Grünen, die sich 1980 als Bundespartei konstituiert haben. In der Tat: Auf den ersten Blick lässt sich die Ähnlichkeit zwischen den Parteien schwerlich leugnen. Und genau deshalb fallen die politischen Bewertungen des Phänomens noch recht entspannt aus. Vieles wirkt intuitiv wie vor drei Dekaden, eine vergleichbare Entwicklung scheint realistisch und absehbar. Ein neues Thema (in diesem Fall der Umgang mit den Folgen der digitalen Revolution) steht wie damals der Umweltschutz plötzlich auf der Agenda. Eine junge Partei eignet sich die Materie an. Sie etabliert sich, muss lernen, das Säurebad der Macht auszuhalten, sich konsolidieren und irgendwann auch mit Rückschlägen umgehen.
All diese wohlfeilen Analogien enden dann aber doch recht schnell. Nicht wenige Beobachter halten die Piraten im Vergleich zu den Grünen für überschätzt. Ihre zentralen Anliegen – Freiheit im Internet, Transparenz politischer Entscheidungsverfahren, unmittelbare Mitwirkung der Bürger – sind aus Sicht der Skeptiker beileibe nicht so elementar wie seinerzeit die Themen Frieden und Umwelt. Zudem wurzelten die Grünen auf einem breiten, über eine Dekade hinweg gewachsenen gesellschaftlichen Vorfeld aus Subkulturen, politischen Initiativen und sozialen Bewegungen. Das alternative Milieu der frühen achtziger Jahre, die Frauen- und Schwulenbewegung, Ökoprojekte, Kommunen, Kinderläden, Anwaltskollektive, Bioläden, Hausbesetzer und alternative Zeitungen waren der Humus, auf dem die junge Partei gedeihen konnte (Rucht 2010, S. 76 ff.). Mit der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung gab es zwei massenwirksame Kristallisationspunkte, von denen man profitieren konnte. Die Piraten dagegen wirken zunächst wie ein fades Projekt der Postmoderne. Gegen die giftige Wolke über Seveso oder die Bilder einer atomaren Apokalypse wirkt die Kritik an Netzsperren gegen Kinderpornografie viel zu begrenzt, kleinteilig und technisch. Die Datenschutzaktivisten vertreten zweifelsohne ehrbare Werte, die Bedrohung durch staatliche Übergriffe dünkt dem Gros der Bürger dann allerdings doch eher abstrakt.
Die Zweifel an der dauerhaften Etablierung der Partei bleiben, zumal das Wählerverhalten zunehmend volatil geworden ist. SPD und CDU/CSU bewegen sich bei Wahlen gegenwärtig 10 bis 15 Prozentpunkte unterhalb des Niveaus, das sie von circa 1960 bis 2002 beständig erreichten. Legt man nicht den Anteil, sondern die absolute Stimmenzahl zugrunde, ist der Niedergang noch weitaus dramatischer: Rund 25 Millionen Stimmen konnten die Volksparteien SPD , CDU und CSU bei der Bundestagswahl 2009 auf sich vereinen, das sind über neun Millionen weniger als sie 1972 und 1976 erzielten – und das seinerzeit nur in Westdeutschland. Die Profiteure dieser Entwicklung finden sich vielerorts. Die Grünen konnten sich ein beachtliches Wählerspektrum sichern. Die Linke, die nach wie vor auf eine spezifische Klientel in Ostdeutschland zählen kann, hat im Zuge ihrer zwischenzeitlich erfolgreichen Westausdehnung einen Teil der SPD -Wähler fortgelockt. Ende der nuller Jahre profitierte insbesondere die FDP von der Beweglichkeit im bürgerlichen Milieu. Schließlich wuchs auch der Anteil der Nichtwähler an.
Nun haben sich also die Piraten einen Teil des Kuchens gegriffen, doch die Ausschläge, die alle Parteien bei Wahlen erleben, sind immens groß. Totgesagte Parteien wie die FDP schaffen ein Comeback, scheinbar bereits
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