1826 - Das Nebelheer
Die Wand befand sich links von ihm. Jetzt nicht mehr, denn er hatte sich umgedreht. Er schaute hin und konnte es nicht begreifen. Das Gemälde, das dort gehangen hatte und auf das er immer so stolz gewesen war, war nicht mehr vorhanden.
Die Wand war zwar nicht leer, es hing noch der Rahmen, und die Leinwand war auch noch da, aber das Motiv war verschwunden …
Marian Drake bewegte sich nicht. Er schloss die Augen. Dabei hielt er den Atem an, und jetzt spürte er den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Das war nicht grundlos eingetreten, denn der Mann verspürte ein verdammt ungutes Gefühl in sich hochsteigen. Es war die Angst, die er zunächst mal nicht in den Griff bekam. Sie blieb unterschwellig bestehen, während er sich mit dem Motiv des Bildes beschäftigte.
Es hatte die Leinwand verlassen, was eigentlich unmöglich war, aber die Tatsachen sprachen für sich. Die Reiter waren verschwunden. Sie hatten dem Bild seinen Namen gegeben.
Das Nebelheer!
Sieben mit Kutten bekleidete und auch bewaffnete Reiter waren auf der Leinwand zu sehen gewesen, und jeder Reiter wurde von den Nebelschwaden umhüllt.
Das Bild hatte Marian Drake wunderbar gefallen. Immer und immer wieder hatte er es sich anschauen müssen und er hatte immer daran gedacht, was wohl geschehen würde, wenn diese Reiter plötzlich lebendig wurden. Der Gedanke hatte ihn nicht grundlos erfasst, denn dieses Bild hatte seine Geschichte, und man konnte sie durchaus als unheimlich beschreiben.
Marian wischte über sein Gesicht. Als die Augen wieder frei lagen und er normal sah, da hatte sich nichts verändert. Es war kein Reiter in das Bild zurückgekehrt.
Aber wie waren sie verschwunden?
»Genau das ist die Frage«, murmelte er. »Wie können Motive aus einem Bild verschwinden?«
Er wusste die Antwort nicht. Es war schlimm, aber es war auch nichts zu machen.
Es dauerte schon seine Zeit, bis er sich überwunden hatte, auf das Bild zuzugehen. Für ihn war es noch immer ein Bild, auch wenn das Motiv nicht mehr vorhanden war.
Dicht davor hielt er an. Noch tat er nichts und starrte nur auf die leere Leinwand. Nein, so leer war sie nicht, das musste er schon zugeben. Im unteren Drittel breitete sich der dünne Nebel aus. Er bildete dort eine Schicht, die sich über die Bildbreite hinweg verteilte. Eigentlich hätten jetzt die Reiter zu sehen sein müssen, wie sie zum größten Teil aus dem Nebel hervorragten.
Sie waren nicht mehr da und einfach weg, wobei sich Drake wieder die Frage stellte, wie so etwas möglich war. Es waren die Nebelreiter. Es waren besondere Personen, wie er sich erinnerte. Der Verkäufer hatte von Schätzen aus der Totenwelt gesprochen. Oder auch von Schattenreitern, die sehr authentisch waren.
Und jetzt?
»Das gibt es doch einfach nicht«, flüsterte Drake. »Das kann ich mir nicht vorstellen, das ist gar nicht wahr. Ich irre mich, ich muss mich einfach irren …«
Das stimmte nicht, auch wenn er sich noch so bemühte, die Leinwand blieb leer, und es gab keinen Reiter, der wieder zurückgekehrt wäre.
Alles blieb, wie es war, und Marian Drake war endlich in der Lage, seinen rechten Arm zu heben und ihn gegen das Bild auszustrecken. Er wollte es berühren, es fühlen und wissen, ob es die Leinwand noch gab oder er gegen die Wand fasste.
Da war alles möglich …
Es kam zur Berührung. Drake hatte nur mit der Fingerspitze dagegen getippt. Und er hatte das Gefühl, einen elektrischen Schlag erhalten zu haben.
Da war etwas passiert. Eine Entladung oder etwas in dieser Richtung. Er schüttelte sich, als hätte man Wasser über seinen Körper gegossen. So leicht war das nicht zu begreifen. Er hatte sogar kleine Funken aufsprühen gesehen.
Oder nicht?
Wieder grübelte er darüber nach, ob so etwas überhaupt möglich war. Das konnte sein, musste aber nicht. Jedenfalls war er von geheimnisvollen Kräften umgeben, die er nicht in den Griff bekam.
Er wollte auch kein zweites Mal hinfassen, davor fürchtete er sich und ging wieder zurück. Das leere Bild machte ihm Angst. Dass so etwas überhaupt passierte, war für ihn unbegreiflich, aber er musste sich damit abfinden.
Erst als er gegen einen kleinen Tisch stieß, hielt er an. Das Möbel stammte aus der Barockzeit, hatte eine runde Platte, auf die Marian eine Glasplatte hatte einarbeiten lassen. So wurde das Holz nicht beschädigt. Auf der Platte standen mehrere Flaschen. Allesamt gut gefüllt mit edlem Whisky.
Einen Drink brauchte er jetzt. Vielleicht auch einen zweiten. Das
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