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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dfg
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heimgehen.
Er durfte es keinem sagen, aber dieser Bonaparte interessierte ihn. Angeblich diktierte er bis zu sechs Briefe zugleich. Einst hatte er eine vorzügliche Abhandlung über das Problem der Kreisteilung mit festgestelltem Zirkel verfaßt. Schlachten gewann er, indem er als erster und am überzeugendsten behauptete, gewonnen zu haben. Er dachte schneller und gründlicher als die anderen, das war das ganze Geheimnis. Gauß fragte sich, ob Napoleon wohl von ihm gehört hatte.
Mit der Sternwarte werde es so bald nichts, sagte er beim Abendessen zu Johanna. Noch immer beobachte er den Himmel von seinem Wohnzimmer aus, das sei doch kein Zustand! Er habe ein Angebot aus Göttingen. Dort wolle man ebenfalls ein Observatorium bauen, es sei nicht weit, er könnte von dort jede Woche seine Mutter besuchen. Der Umzug könnte erledigt sein, bevor das Kind da sei.
Aber Göttingen, sagte Johanna, gehöre jetzt zu Frankreich.
Göttingen zu Frankreich?
Wieso, rief sie, sei ausgerechnet er blind für Dinge, die sonst jeder sehe? Göttingen gehöre zu Hannover, dessen Personalunion mit der englischen Krone durch Frankreichs Siege gebrochen sei und das Napoleon dem neuen Königreich Westfalen angegliedert habe, regiert von Jérôme Bonaparte. Wem also leiste ein westfälischer Beamte den Diensteid? Napoleon!
Er rieb sich die Stirn. Westfalen, wiederholte er, als würde es klarer, wenn er es sich vorsagte. Jérôme. Was habe das mit ihnen zu tun?
Mit Deutschland, sagte sie, habe es zu tun und damit, wo man stehe.
Er sah sie hilflos an.
Sie wisse schon, jetzt werde er sagen, daß aus der Zukunft zurückgeblickt beide Seiten einander gleichen würden, daß sich bald keiner mehr über das erregen werde, wofür man heute sterbe. Aber was ändere das? Die Anbiederung an die Zukunft sei eine Form der Feigheit. Glaube er wirklich, man werde dann klüger sein?
Ein wenig schon, sagte er. Notgedrungen.
Man lebe aber jetzt!
Leider, sagte er, löschte die Kerzen, ging zum Teleskop und richtete es auf die nebelverhangene Oberfläche des Jupiter. Deutlicher als je sah er in der klaren Nacht seine winzigen Monde.
Das Fernrohr schenkte er bald darauf Professor Pfaff, und sie zogen nach Göttingen. Auch hier herrschte Unordnung. Nachts lärmten französische Soldaten, und wo das Observatorium entstehen sollte, war noch nicht einmal die Erde für das Fundament ausgehoben, bloß ein paar Schafe zupften an Grashalmen. Die Sterne mußte er von Professor Lichtenbergs alter Turmkammer auf der Stadtmauer aus beobachten. Und das Schlimmste: Man zwang ihn, Kollegien zu halten. Junge Männer kamen in seine Wohnung, schaukelten mit seinen Stühlen und machten ihm die Sofakissen speckig, während er sich abmühte, ihnen auch nur irgend etwas begreiflich zu machen.
Von allen Menschen, die er je getroffen hatte, waren seine Studenten die dümmsten. Er sprach so langsam, daß er den Beginn des Satzes vergessen hatte, bevor er am Schluß war. Es nützte nichts. Er sparte alles Schwierige aus und beließ es bei den Anfangsgründen. Sie verstanden nicht. Am liebsten hätte er geweint. Er fragte sich, ob die Beschränkten ein spezielles Idiom hatten, das man lernen konnte wie eine Fremdsprache. Er gestikulierte mit beiden Händen, zeigte auf seinen Mund und formte die Laute überdeutlich, als hätte er es mit Taubstummen zu tun. Doch die Prüfung schaffte nur ein junger Mann mit wäßrigen Augen. Sein Name war Moebius, und als einziger schien er kein Kretin zu sein. Als bei der zweiten Prüfung wiederum nur er bestanden hatte, nahm der Dekan nach der Fakultätsversammlung Gauß zur Seite und bat, nicht ganz so streng zu verfahren. Als Gauß den Tränen nahe nach Hause kam, fand er dort nur ungebetene Fremde: einen Arzt, eine Hebamme und seine Schwiegereltern.
Alles habe er versäumt, sagte die Schwiegermutter. Wohl wieder den Kopf in den Sternen gehabt!
Er habe ja nicht einmal ein anständiges Fernrohr, sagte er bedrückt. Was denn passiert sei?
Es sei ein Junge.
Was für ein Junge denn? Erst als er ihrem Blick begegnete, verstand er. Und er wußte sofort, daß sie ihm das nie verzeihen würde.
Es tat ihm leid, daß es ihm so schwer fiel, den Kleinen zu mögen. Man hatte ihm gesagt, das komme von selbst. Aber noch Wochen nach der Geburt, wenn er das hilflose Wesen, das aus irgendeinem Grund Joseph hieß, in Händen hielt und seine winzige Nase und verwirrenderweise vollzähligen Zehen betrachtete, fühlte er nichts als Mitleid und Scheu. Johanna nahm es ihm ab und

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