Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dfg
Vom Netzwerk:
fragte mit einem Anflug von Besorgnis, ob er glücklich sei. Aber natürlich, sagte er und ging zum Teleskop.
Seit sie in Göttingen lebten, besuchte er wieder Nina. Sie war nicht mehr ganz jung und empfing ihn mit der Vertrautheit einer Ehefrau. Er habe noch immer nicht Russisch gelernt, sagte sie vorwurfsvoll, und er entschuldigte sich und versprach, es bald zu tun. Von diesen Besuchen, das hatte er sich geschworen, würde Johanna nie erfahren, selbst unter Folter wollte er lügen. Er war verpflichtet, Schmerz von ihr fernzuhalten. Er war nicht verpflichtet, ihr die Wahrheit zu sagen. Wissen war schmerzhaft. Kein Tag verging, an dem er selbst sich nicht weniger davon wünschte.
Er hatte ein Werk über Astronomie begonnen. Nichts Bedeutendes, kein Buch für die Ewigkeit wie die Disquisitiones, die Zeit würde es hinter sich lassen. Aber es versprach die genaueste Anleitung zur Bahnberechnung zu werden, die es je gegeben hatte. Und er mußte sich beeilen. Obwohl er gerade erst dreißig war, bemerkte er, daß seine Fähigkeit zur Konzentration nachließ und die Pausen, welche die Menschen vor ihren Antworten zu machen schienen, immer kürzer wurden. Er hatte weitere Zähne verloren, und Woche für Woche plagten ihn Koliken. Der Arzt riet zu einer Pfeife jeden Morgen und einem lauwarmen Bad vor dem Schlafengehen. Er war sicher, daß er nicht alt werden würde. Als Johanna ihm mitteilte, daß schon wieder ein Kind unterwegs sei, hätte er nicht sagen können, ob er sich darüber freute. Es würde ohne ihn aufwachsen müssen, das stand fest. Immerhin machte er diesmal alles richtig: Er war ängstlich während der Geburt und erleichtert danach, und zu Ehren ihrer dummen Freundin Minna nannten sie das Mädchen Wilhelmine. Als er nur wenige Monate später versuchte, ihr Rechnen beizubringen, sagte Johanna, das sei nun wirklich zu früh.
Widerwillig, da Johanna schon wieder schwanger war, fuhr er nach Bremen, um mit Bessel die Jupitertabellen durchzugehen. Vor der Abfahrt schlief er eine Woche schlecht, hatte Alpträume, war tagsüber wütend und bedrückt. Die Reise war noch schlimmer als die nach Königsberg, die Kutsche noch enger, die Mitreisenden noch weniger gewaschen, und als ein Rad brach, mußten sie vier Stunden in einer lehmigen Landschaft stehen, während der Kutscher es schimpfend reparierte. Sofort nachdem Gauß übermüdet, mit schwerem Kopf und schmerzendem Rücken aus der Kutsche gestiegen war, fragte ihn Bessel nach der Berechnung der Jupitermasse aus den Ceresstörungen. Ob er schon einen konsistenten Orbit habe?
Gauß lief rot an. Es gelinge ihm nicht, was solle er tun! Hunderte Stunden habe er sich damit befaßt. Die Sache sei unvorstellbar diffizil. Eine Qual sei es und er zum Teufel nicht mehr jung, man solle ihn verschonen, er lebe ohnehin nicht mehr lange, es sei ein Fehler gewesen, sich auf diesen Kram einzulassen.
Kleinlaut fragte Bessel, ob er das Meer sehen wolle.
Keine Expeditionen, sagte Gauß.
Es sei ganz nahe, sagte Bessel. Eine Spazierfahrt bloß!
In Wahrheit war es eine weitere mühselige Reise, und die Kutsche schaukelte so stark, daß Gauß wieder seine Koliken hatte. Es regnete, das Fenster schloß nicht dicht, und sie wurden naß bis auf die Haut.
Aber es lohne sich, wiederholte Bessel immer wieder. Das Meer müsse man doch gesehen haben.
Müsse man? Gauß fragte, wo das geschrieben stehe.
Der Strand war verdreckt, und auch das Wasser ließ zu wünschen übrig. Der Horizont schien eng, der Himmel niedrig, das Meer wie eine Suppe unter schmutzigem Nebel. Kalter Wind wehte. In der Nahe verbrannte etwas, und der Rauch machte das Atmen schwer. Auf den Wellen hob und senkte sich ein kopfloser Hühnerkörper.
Ja, gut. Gauß blinzelte in den Dunst. Dann könne man jetzt wohl zurück.
Doch Bessels Unternehmungslust war ungehemmt. Es reiche nicht, das Meer zu sehen, man müsse auch im Theater gewesen sein!
Theater sei teuer, sagte Gauß.
Bessel lachte. Der Herr Professor solle sich in allem als Gast betrachten, es sei ihm eine Ehre. Er miete eine Privatkutsche, man sei im Handumdrehen dort!
Die Reise dauerte vier quälende Tage, und das Bett im Weimarer Gasthof war so hart, daß Gauß’ Rückenschmerzen unerträglich wurden. Außerdem brachten ihn die Sträucher an der Um zum Niesen. Im Hoftheater war es heiß, das stundenlange Sitzen eine Pein. Man gab ein Stück von Voltaire. Irgend jemand tötete einen anderen. Eine Frau weinte. Ein Mann klagte. Eine andere Frau fiel auf die Knie. Monologe

Weitere Kostenlose Bücher