Milo und die Meerhexe
geworden. Hoffentlich ist Letti nichts passiert!, ist alles, was ich denken kann. Dann nämlich bliebe mir nichts anderes übrig, als die Meerhexe aufzusuchen, und dazu habe ich keine große Lust. Denn erstens wohnt sie in einem finsteren Meeresgraben hinter dem Totenriff und zweitens soll sie tatsächlich nicht besonders freundlich sein. Von Filippus’ Großvater weiß ich, dass zuweilen sogar junge Delfine auf ihrer Speisekarte stehen. Womöglich ist Letti aber längst heimgekehrt und ich begebe mich ganz umsonst in Lebensgefahr.
Also mache ich kehrt
und schwimme zurück.
„Da bist du ja!“, begrüßt Pino mich.
„Mama hat dich schon vermisst.“
„Ich war bei Filippus“, sage ich.
„Da hattest du mehr Glück als ich“, erwidert Pino zwinkernd. „Ich bin Mama nämlich genau vor die Nase geschwommen und musste sofort wieder umkehren. Außerdem war sie ziemlich sauer, weil ich dich allein zurückgelassen habe. Du solltest dich lieber sofort bei ihr blicken lassen.“
„Okay, das mache ich“, entgegne ich ungeduldig. „Aber jetzt sag mir doch erst mal, ob sie Letti gefunden haben.“
Mein Bruder senkt traurig den Kopf. „Leider nicht“, krächzt er. „Papa ist inzwischen mit Onkel Alf und Onkel Santos losgezogen, um an den entlegeneren Orten des Ozeans nach ihr zu suchen.“
„An welchen Orten denn?“, frage ich
und schlucke schwer.
Mein Herz zieht sich zusammen.
Es fühlt sich an wie ein kleiner
harter Felsbrocken.
„Und jetzt los!“, fordert Pino mich auf. „Schwimm zu Mama. Sonst verzweifelt sie noch.“
Ich nicke und wende mich ab. Zuerst will ich tatsächlich zu meiner Mutter, doch dann wächst in mir die Befürchtung, dass Mama mich nicht mehr weglässt, wenn ich erst einmal in ihre Fänge geraten bin.
Ich muss aber zur Meerhexe, daran führt kein Weg vorbei. Zwar habe ich große Angst vor ihr, aber ich kann auch nicht seelenruhig zwischen den Klippen treiben und auf Papas Rückkehr warten. Lieber nutze ich eine günstige Gelegenheit, und die bietet sich mir schneller als gedacht. Offenbar vertraut Pino darauf, dass ich mein Wort halte, und achtet nicht weiter auf mich, und auch die anderen Delfine aus meiner Schule scheinen mit sich selbst beschäftigt zu sein.
Lautlos lasse ich mich an die Wasseroberfläche treiben. Dort hole ich einmal tief Luft, dann stoße ich pfeilschnell in die Tiefe und tauche in eine schmale
Riffspalte in die Dunkelheit ab. Mein Körper ist schlank genug, dass ich mich in dieser Spalte bis zum Meeresboden hinunterarbeiten kann. Zwar schramme ich mir an einer scharfen Kante die Haut auf, aber ich beiße die Zähne zusammen und schwimme tapfer weiter.
In der Ferne höre ich die Stimmen meines Vaters und meiner Onkel, die nach Letti rufen, und auch ich frage auf meinem Weg zum Todesriff jeden Rochen, jede Auster und jeden Fisch nach meiner Schwester, aber keiner hat sie gesehen.
„Bestimmt hat sie sich
in Meerwasser aufgelöst“,
spottet eine Seeschlange.
„Du musst die alte Hexe fragen“,
raunt mir eine Qualle zu.
„Genau das habe ich vor“,
brumme ich
und schwimme hastig weiter.
Quallen kann ich nicht ausstehen. Im Grunde sind sie zu gar nichts nütze, sondern nerven einfach nur. Dummerweise bin ich noch nie beim Todesriff gewesen und daher weiß ich auch nur so ungefähr, wo es sich befindet.
„Schwimme dorthin, wo nie ein anderer hinschwimmt“, sagt eine feine Stimme über mir. Ich schaue hoch und bemerke zu meinem Schreck, dass sich eins dieser schwabbeligen durchsichtigen Quallenbiester auf meinem Kopf niedergelassen hat.
„Verschwinde!“, knurre ich.
„Lass mich bloß in Ruhe!“
„Wie du willst“, flüstert die Qualle.
„Aber beschwere dich nicht.“
„Wieso sollte ich?“, erwidere ich und stelle verwundert fest, dass die Qualle sich tatsächlich sofort von mir löst und davontreibt. Es dauert nicht lange und von ihr ist nur noch ein fahles rosiges Leuchten zu sehen.
Da ich keine Lust habe, ihr ein zweites Mal zu begegnen, schwimme ich in die entgegengesetzte Richtung weiter, und plötzlich habe ich das Gefühl, nicht mehr richtig voranzukommen.
Der Boden unter mir ist nun grau und mit groben dunklen Steinen übersät. Nirgends kann ich einen Fisch, ein Krebstier oder eine Muschel ausmachen und dann schiebt sich auch noch ein schwarzer Schatten auf mich zu. Ich kann kaum noch etwas erkennen und eine dumpfe Angst breitet sich in mir aus. Am liebsten würde ich kehrtmachen. Aber der Gedanke
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