Mina (German Edition)
und die Fü-ße fol-gen dem Rhyth-mus der Wor-te. Beim Schrei-ben nimmt man die Wor-te auf ei-nen Spa-zier-gang mit.
„Spazierengehen ist auch eine Art Meditation“, sagt sie.
„Oh.“
„Ja. Meditation geschieht meistens im Sitzen. Man muss still sitzen und den Geist sehr still halten.“
„Wie ich manchmal im Baum?“
„Ja. Aber es gibt auch eine Meditation im Laufen. Man konzentriert sich auf jeden Schritt. Man denkt an nichts anderes. Man tut nichts anderes außer laufen. Und man hofft, dadurch Klarheit und Ruhe zu erlangen.“
Wir versuchen es. Wir gehen nebeneinander über die Wege des Parks. Ich denke nicht mehr an Worte oder Striche. Ich versuche, an nichts zu denken, sondern nur einen Schritt vor den anderen und vor den anderen zu setzen. Wir atmen langsam und regelmäßig.
„Du darfst an gar nichts denken“, sagt sie, „nur laufen.“
Aber während wir durch den Park gehen, muss ich plötzlich an den Tunnel unter der Erde denken, und statt ruhig zu werden, werde ich nervös. Mama merkt es. Sie bleibt stehen. Sie schaut mich an. Sie wartet. Und ich erzähle ihr von dem Tag, an dem ich aus der Schule lief und ganz allein unter die Erde ging, wo ich dem Mann und dem Hund begegnete. Ich erzähle ihr, dass ich geglaubt hatte, Papa zurückholen zu können, dass ich versuchte zu tun, was Orpheus getan hatte. Ich schaffe es sogar zu lachen, während ich davon erzähle.
„Ich war so dumm“, sagte ich. „Ich war so jung.“
Ich versuche weiterzulachen, aber jetzt weine ich fast.
Sie hält mich ganz fest.
„Du hättest es mir damals schon sagen sollen“, sagt sie.
„Ich sage es dir jetzt.“
„Und du hast wirklich einen Hund gesehen?“, fragt sie.
„Ja. Einen Mann und einen Hund. Ich dachte, der Hund sei Zerberus. Ich dachte, der Mann sei eine Art Wächter der Unterwelt. Ich dachte, ich würde den Hades betreten.“
„Ach, Mina!“
Ich stoße ein kleines Lachen aus. „Wahrscheinlich war das nur ein Arbeiter“, sage ich, „und der Hund war vermutlich irgendein Streuner.“
Ich muss kichern. „Tragt mich weiter, Füße“, sage ich, und wir gehen weiter im Licht, während ich mich an meine Wanderung in der Dunkelheit erinnere.
„Ich dachte, dass ich Pluto und Persephone begegnen würde“, sage ich, „wenn ich nur immer weiterlaufen würde.“
„Oh Mina! Was für ein Mädchen!“
„Ich hatte mir alles so gut überlegt“, sage ich.
„Und was hättest du zu Pluto und Persephone gesagt?“
Ich lache. „Gebt ihn mir wieder! Gebt ihn mir wieder!“
Sie schüttelt den Kopf. „Gebt ihn mir wieder“, murmelt sie.
Wir gehen weiter. Schweigen. Wir lauschen den Vögeln und den Geräuschen der Stadt, die uns umgeben.
Sie fragt mich, ob alles in Ordnung sei, wirklich und wahrhaftig.
„Ja.“
Eigentlich will ich still sein, aber dann erzähle ich ihr von Sophies Besuch.
„Das war nett von ihr“, sagt Mama. „Vielleicht kommt sie mal wieder.“
„Vielleicht.“
„Vielleicht könntet ihr wieder Freundinnen sein.“
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht.“
Ich möchte klar und ruhig sein, aber ich merke, dass ich an den Jungen denken muss, der mit seiner Familie in Mr Myers’ Haus eingezogen ist. Wie er auf der Straße gestanden hat. Und ich erzähle ihr auch davon.
„Sieht er interessant aus?“, will sie wissen.
Ich zucke mit den Schultern.
„Vielleicht.“
Sie lächelt und scheint noch etwas sagen zu wollen, aber dann nimmt sie nur meine Hand, drückt sie und sagt: „Bestimmt.“
Ich wende meine Gedanken von der Unterwelt ab, von Sophie und auch von dem Jungen. Ich konzentriere mich auf den besänftigenden Rhythmus des Laufens.
Mei-ne Fü-ße tra-gen mich, wo-hin sie wol-len.
Mei-ne Fü-ße tra-gen mich, wo-hin sie wol-len.
Mei-ne Fü-ße tra-gen mich, wo-hin sie wol-len.
Während ich die Silben bei jedem Schritt lautlos mit den Lippen forme, verwandelt der Rhythmus die Worte in eine Art Melodie. Das Laufen verwandelt sich in eine Art Tanz.
Wir besprechen nicht, wohin wir gehen, sondern gehen einfach weiter, über den Pfad neben dem Fluss, der durch den Park fließt. Er rauscht und gurgelt neben uns. Eine Brücke, über die eine breite Straße verläuft, trägt den Verkehrslärm zu uns. Wir kommen an einer kleinen Wiese vorbei, wo Jungen Fußball spielen und einander laut zubrüllen: „Gib ab! Zu ihm! Zu mir! Kopfball! Jaaaa! Oh nein!“
Wir erreichen den kleinen Streichelzoo, wo kleine Ziegen mit kleinen Hörnern und dickbäuchige kleine
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