Mina (German Edition)
ist auf ganz dünnen Zweiglein erbaut.
Und so schleicht er unten herum, lauscht, schaut und wartet. Die wirklich gefährliche Zeit wird dann kommen, wenn die Vogeljungen flügge werden, wenn sie das Nest verlassen, aber noch nicht gut fliegen können, wenn sie sich in Hecken verstecken, in den Schatten, und die Vogeleltern sie immer noch füttern müssen.
Ich kann es wagen, die Augen zu schließen. Ich bin nicht länger der Wächter der Küken, sondern versuche wieder einmal, mir vorzustellen, ich sei in einem Ei. Ich stelle mir vor, wie die klebrigen Federn und die Flügel aus meinem Körper wachsen. Ich stelle mir vor, wie ich mit meinem kleinen spitzen Schnabel gegen die Eierschale picke. Ich stelle mir vor, wie ich mir einen Weg aus der blaugrünen Dämmerung des Eis picke, hinaus in das blaugrüne Licht des Baums, so wie es die Vogeljungen getan haben. Ich stelle mir vor, wie ich zum ersten Mal meine zarte Zwitscherstimme erprobe. Und ich mache diese winzigen, fast stummen Piep- und Zirplaute, tue so, als ob meine Kehle eine Vogelkehle wäre, mein Mund ein Schnabel, und …
Und dann höre ich meinen Namen.
„Mina? Mina?“
Ich schlage die Augen auf. Schaue nach unten. Direkt unter mir steht ein Mädchen. Es trägt ein T-Shirt mit dem Logo der Sankt-Beda-Schule.
„Mina.“
Ich kann nicht sprechen. Ich gebe einen seltsam klingenden Piepslaut von mir. Ich beiße mir auf die Lippen.
„Weißt du nicht mehr, wer ich bin, Mina?“
Natürlich weiß ich noch, wer sie ist. Es ist Sophie Smith, das Mädchen aus der Schule. Das Mädchen, das für einige Zeit meine Freundin war.
„Doch“, krächze ich schließlich.
„Ich dachte, ich komme mal vorbei und sage Hallo“, sagt sie. Sie lächelt. „Hallo.“
„Hallo“, krächze ich.
Sie lächelt wieder und schaut zu mir und meinem Baum empor. Blaue Augen, blonde Haare, helle Haut. Genauso wie früher, nur älter. Die Amseln stoßen angesichts des unbekannten Besuchers schrille Warnschreie aus.
„Sie haben Junge“, zwitschere ich.
Sophie lächelt. „Gute Eltern“, sagt sie. Sie reißt die Augen auf. „Ich tue ihnen doch nichts!“, flüstert sie den Vögeln zu.
Kreisch! , machen die Vögel. Kreisch! Kreisch!
„Die sind aber mutig“, sagt Sophie. „Und bald werden sie richtig tapfer sein müssen, wenn ihre Babys das Fliegen lernen.“
Dann flattert sie mit den Armen und springt auf und ab. „Schau mal!“, sagt sie. „Ich habe mich operieren lassen!“
„Das ist schön!“
Sie marschiert mit festen Schritten in einem kleinen Kreis. „Es ist noch nicht alles so, wie es sein soll“, sagt sie. „Aber fast.“
„Das ist wirklich toll! Hat es wehgetan?“
„Ja. Und es tut immer noch weh, ein bisschen.“ Wieder läuft sie im Kreis. Sie tritt in die Luft und wackelt mit den Hüften. „Aber das war es wert.“
„Das ist wirklich super, Sophie.“ Meine Stimme klingt so klein, genauso wie die eines Kükens.
„Und du? Was ist mit deiner?“, fragt sie.
„Wie bitte?“
„Na, deine Operation. Die Antimerkwürdigkeitsoperation. Weißt du noch?“
„Oh. Ja, ich erinnere mich. Nein, die habe ich noch nicht machen lassen.“
„Also bist du immer noch merkwürdig, oder?“
„Wahrscheinlich.“
Sie lächelt. „Das ist schön. Du kannst aber trotzdem wiederkommen, weißt du?“
„Was?“
„Du kannst trotzdem wieder zur Schule kommen. Ich denke oft an dich.“
Ich schaue auf die Blätter, die mich umgeben. Plötzlich komme ich mir hier oben so blöd vor. Ich fühle mich so klein und so unmündig.
Sie denkt an mich? Ich habe keine Ahnung, was ich darauf sagen soll.
„Ich weiß nicht“, murmele ich. „Nein, ich glaube nicht. Ich finde, dass Schulen …“
Meine Stimme verstummt. Ich kann nicht einmal einen einzigen Satz zu Ende sprechen.
„Auch nicht, wenn Mrs Scullery meint, dass es schön wäre, wenn du wiederkommst?“, sagt Sophie.
„Scullery? Du machst wohl Witze!“
„Nein.“
„Ha!“
Jemand ruft nach Sophie. Ich schaue die Straße entlang. Da sitzen drei Mädchen auf der niedrigen Mauer an der Ecke.
„Sophie! Komm doch endlich!“
„Ich muss gehen“, sagt sie. Sie lacht. „Du bist echt ganz schön abgedreht.“
Wieder weiß ich nicht, was ich sagen soll.
„Bin ich das?“, krächze ich.
„Ja. Aber du bist nett. Und ich bin auch abgedreht, auf meine Weise. Wie die meisten Leute.“
„Wirklich?“
„Ja.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe und starre zu ihr hinunter. Dann schaue ich zu den
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