Minerva - sTdH 1
sich
mehr Arbeit aufgehalst als ihr bekam. Aber sie schlief abends erschöpft ein,
was viel besser war als wachzuliegen und an zwei grüne Augen und einen schön
geschnittenen Mund zu denken.
Es war ein
ganz stiller Tag, der Himmel war bleiern, und das Eis, das den ganzen Tag nicht
weggetaut war, glitzerte auf dem Gras und den kahlen Zweigen der großen Hecken
zu beiden Seiten der Straße.
Immerhin
hatte ihr Vater sie mit dem Gedanken getröstet, daß ihr Besuch in London Lord
Sylvesters Großzügigkeit bewirkt hatte. Und dank Seiner Lordschaft und des
Marquis von Brabington waren die Zwillinge jetzt glücklich in der Kings Road in
London untergebracht und paukten für ihre Aufnahmeprüfung in Eton.
Das Eis
knackte unter den Sohlen ihrer Überschuhe. Der Winter hielt bereits seinen
Einzug auf dem Land. London, Lady Godolphin, ihre sieben Freier, die Feste, die
Bälle und die Abendgesellschaften erschienen ihr manchmal so, als ob es sie nie
gegeben hätte. Nur Lord Sylvester blieb Wirklichkeit. So sehr sie auch
versuchte, ihn zu vergessen, sie konnte sich an jedes Wort erinnern, das er
gesagt hatte, an jede seiner Liebkosungen.
Vielleicht
sah sie ihn eines Tages wieder. Sein Freund, der Marquis von Brabington, schien
von Annabelle sehr angetan gewesen zu sein, als er in Hopeworth gewesen war, um
Papa zu sagen, daß sie sich keine Geldsorgen mehr zu machen brauchten. Aber er
war nicht noch einmal gekommen, vielleicht, weil er Annabelle für zu jung
hielt. Trotzdem träumte Minerva eine Weile davon, daß der Marquis Annabelle
heiraten würde und daß sie auf diese Weise Lord Sylvester wiedersehen würde,
und sei es nur auf der Hochzeit ihrer Schwester.
Sie seufzte
ein bißchen und schob ihren schweren Arbeitskorb höher an ihrem Arm hinauf.
Das Tageslicht begann zu schwinden.
Manchmal
spielt das Zwielicht seltsame Streiche, und zuerst dachte Minerva, daß die große
Gestalt, die da so unbeweglich mitten auf dem Weg stand und sie unverwandt
ansah, ein Hirngespinst sei.
Die Gestalt
zog schwungvoll ihren Biberhut mit dem gelockten Fellrand und machte eine tiefe
Verbeugung vor ihr.
Minerva
blieb stehen und traute ihren Augen nicht.
»Sylvester!«
rief sie und flog geradewegs in seine Arme. Der Deckel ihres Handarbeitskorbs
sprang auf, und Spulen und Seide und Wolle rollten auf die hartgefrorene
Straße.
Weinend und
lachend warf sie die Arme um seinen Hals und bot ihm die Lippen zum Kuß dar.
Er hielt
sie ein Stück von sich weg, und sie schaute zu ihm auf. Plötzlich wurde ihr
ängstlich zumute.
»Ich liebe
dich, Minerva«, sagte er heiser. »Willst du mir die Ehre erweisen, mir die Hand
fürs Leben zu reichen?«
»O ja«,
sagte die Tochter des Pfarrers und küßte ihn so leidenschaftlich, daß er leicht
schwankte. Da schlang er die Arme fester um sie, um ihre Küsse mit der gleichen
Leidenschaft erwidern zu können.
»Minerva«,
sagte er mit belegter Stimme, als sie schließlich seine Lippen freigab. »Wir
müssen bald heiraten. Ich kann nicht warten.«
»Warum
warten?« lachte Minerva.
»Du bist
ein liederliches Weibsbild. Ein richtiges Luder. Wir werden uns benehmen wie
die ehrbaren Leute, die wir sind, und heimgehen und deiner Familie die freudige
Mitteilung machen, bevor ich mich auf diesem gefrorenen Weg vergesse. Küß mich
noch einmal!«
Es dauerte
eine weitere halbe Stunde, bis sie schließlich verträumt zum Pfarrhaus gingen.
Dort wurden sie von den Mädchen mit
Willkommensrufen begrüßt. Mrs. Armitage war so überglücklich, daß sie ganz
vergaß, einen Krampf zu bekommen.
Nur
Annabelle stand still in einer Ecke im Salon und beobachtete Lord Sylvester.
Sie sah die Liebe und das Lachen in seinen Augen und den schönen Schwung
seines Mundes. Der Marquis von Brabington war der einzige, der Annabelles Blick
bemerkte, als er sich umdrehte, nachdem er seinem Freund gratuliert hatte, und
ein Schatten huschte über sein Gesicht.
Bald waren
sie alle um den Tisch im Eßsalon des Pfarrhauses versammelt. Der Londoner
Gesellschaft wäre es schwergefallen, den hochmütigen Lord Sylvester wiederzuerkennen,
wenn sie ihn so hätte sitzen sehen mit der kleinen Frederica auf den Knien und
dem vor Glück verklärten Gesicht.
»Ich werde
deinen Brief immer in Ehren halten, mein Liebling«, sagte er über Fredericas
Locken hinweg lächelnd zu Minerva.
»Oh, diesen
schrecklichen Brief!« rief Minerva aus. »Nicht den«, zog er sie auf. »Den
schönen, der mich veranlaßt hat, zu kommen.«
Minervas
Augen wurden
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