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Mingus

Mingus

Titel: Mingus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keto von Waberer
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duftet. Mir wird übel davon.
    Die Zuhörerin ist eine alte Frau, die sich mir gegenüber auf dem gelben Teppich breitmacht wie eine Gewitterwolke. Sie hockt da mit untergeschlagenen Beinen. Erstaunlich, sie ist so alt und fett.
    Sie haben Angst um mich, meine Eltern. Die Zuhörerin ist meine Medizin, sagt Mama. Sie ist berühmt, sagt Mama. Sie wird mich wieder ganz so hinkriegen, wie ich vorher war, sagt Mama. Ich glaube das nicht. Wie soll das gehen?
    »Von Anfang an«, sagt die Zuhörerin. Sie hat keinen Namen. »Von Anfang an, kleine Nin. Lass dir Zeit.«
    Sie legt den Kopf schief, um zuzuhören. Sie soll einfach nur zuhören. Das hilft, sagt Mama. Papa sagt, es sei Blödsinn. Er will sich schlaumachen, sagt er. Er kennt Leute, die sich auskennen mit der neuesten Traumaforschung.
    »Ganz ruhig. Mach die Augen zu! Atme tief ! Entspann dich!«
    Ich bin im Wasser. Ich bin unter Wasser. Ich ziehe Bahn auf Bahn, hin und her, im hallenden Getöse des Schwimmpavillons. Es gibt zwei davon in unserem Bezirk der Oberstadt. Ich gehe immer in diesen, der Palmen wegen, die um das Becken stehen. Nachzuchten, sagt Papa. Wenn ich am Rand zu Atem komme, sehe ich zu, wie sie im Dunst ihre Wedel fast bis ins Wasser strecken und Perlen von klarenTropfen zu mir herunterfallen. Wieder tauche ich unter, in den Ohren das dumpfe Tosen des Wassers, der eisige Druck gegen meine Stirn, wenn meine Arme das Wasser zerteilen.
    Der alte Mann in der eleganten Badetunika sieht mir zu. Er sitzt dort unter den Palmen, wie jedes Mal. Er sitzt dort jeden Tag. Er lehnt seinen Kopf an die Kacheln, so wie er das immer tut, als schlafe er, die Arme über der Brust gekreuzt. Reglos. Aber er schläft nicht. Seine Augen hinter den halb geschlossenen Lidern sind immer auf mir. Ich beachte ihn kaum.
    Unter der Dusche schließe ich die Augen. Da kommen Hände, die mich packen, die mir wehtun. Ich schlage um mich, schlucke Wasser, falle gegen die Wand. Ich kann ihn nicht sehen, meinen Angreifer. Ich kann ihn nicht fassen. Panik. Ich öffne den Mund zum Schrei, bekomme keine Luft – keine Luft. Der fürchterliche Schmerz im Nacken, ich falle gegen die Kachelwand, sehe durch die Vorhänge von Wasser in das Gesicht dicht vor mir: ein verzerrtes Gesicht, glänzend nass. Mehr nicht, aber ich habe ihn erkannt.
    Zeit, die vergeht, ohne dass ich wach bin, aber ich bin auch nicht ganz betäubt. Werde eingewickelt, getragen, verbogen, ausgestreckt, transportiert, fühle die Vibration von Flugmaschinen, das Brüllen von Motoren, das metallische Ticken von Apparaturen. Kann nicht denken, will nur atmen, will am Leben bleiben. Luft, die mein Gesicht streift. Hände an mir, Körper an mir. Stimmen, Knistern und Glockenschläge. Fühle Hast und Handgemenge ummich. Fühle Hüllen und Wärme um mich. Fühle Übelkeit. Fühle Todesmüdigkeit.
    Und dann der Käfig. In Decken gewickelt, krank wie ein Wombat, Schmerzen und Schwindel. Glaube zu sterben. Höre mich atmen, schreien, husten.
    »Gut so, gut. Und weiter?«, sagt die Zuhörerin und sieht mich an aus ihren bernsteingelben Augen – das Schönste an ihr.
    »Ich bin müde«, sage ich. »Ich kann nicht mehr.«
    »Das ist erst der Anfang«, flüstert sie. »Wir haben noch viel zu tun. Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Zwei Jahre deines Lebens, die …«
    »Wo ist er?« Ich schreie jetzt.
    »Man sucht nach deinem Entführer. Die ganze Ci-Po ist ihm auf den Fersen. Die finden ihn und sein Versteck – dort, wo er dich gefoltert hat.«
    »Nein! Wo ist er?« Ich schreie. »Ich will ihn sehen, was machen sie mit ihm? Er hat mich gerettet.« Ich höre mich heulen vor Wut, es brennt wie Feuer in meiner Kehle. »Mingus. Wo ist Mingus?«
    »Vergiss alles Schwere. Mach alles leicht und hell in deinem Kopf. Lass alles los! Lass es los!«, sagt sie.
    »Ich will aber nicht«, schreie ich. »Ich will zu ihm. Sofort!«
    »Auch er wird heilen. Man kümmert sich um ihn. Er ist unverletzt. Es geht ihm gut. Deine einzige Sorge gilt jetzt dir selbst. Beruhige dich.«
    »Aber ich habe die Wissenschaftler gesehen, hier im Pam. Männer in weißen Kitteln. Sie sprechen nur über ihn, sie wollen Tests machen, Untersuchungen, Operationen.Ein Kongress ist einberufen. Die ganze Nation will Daten, Erkenntnisse, Analysen. Ich hab’s hier gesehen, hier … Der Präsi spricht über Fortschritt. Genforschung. Goldene Zeiten …« Ich heule jetzt laut, die Tränen springen mir nur so aus den Augen. »Alle sprechen von ihm. Sie zeigen ihn nicht. Sie wollen ihn

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