Mingus
ich konnte bei Boris nicht bleiben, und wieder haben wir eine Strecke des Weges zurückgelegt, Leo und ich, gemeinsam. Keine glückliche Strecke. Nicht nur für uns beide.
Ich krieche aus der Einfahrt und strecke den Kopf auf die Straße hinaus. »Sie sind weg«, sagt eine Frau, die einen Wagen vorbeizerrt, auf dem ein alter Mann hockt und ins Licht blinzelt. Wir alle wissen, dass die gelben Trupps, die wir »Bananos« nennen, unberechenbar sind und bedrohlich, ganz gleich, ob man illegal ist oder Papiere hat.
Ich bin nichts als eine alte magere Frau mit blauem Kopftuch, das ich über den Mund gezogen habe, nur die Augen schauen heraus. Das ist nicht auffällig. Fast alle verhüllen ihren Kopf, tragen Gesichtsmasken, Strahlungsbrillen, Dekohauben mit Glöckchen und Plastikhüte.
Die Gruppe von »Tiermenschen«, diesmal Zebras mit bemalten Gesichtern und gestreiften Overalls, schließt sich für Minuten um mich und blökt einmütig. Es ist lächerlich und traurig, wie sich nun, wo alle großen Tiere ausgerottet sind, Sekten bilden, die das verlorene Animalische beschwören und feiern. Die »Tiermenschen« sind die absolut dämlichsten Viecherfreunde unter diesen Gruppen. Sie beschränken sich auf Verkleidung, Theateraufführungen, Stimmimitation und Betteln. Ich denke an den jungen Löwenmann auf meinem Sofa, und meine Brust zieht sich zusammen aus Angst um ihn, auch vor Angst um mich selber. Ich habe Lust, nach den Zebras zu schlagen. Ich komme frei und bahne mir einen Weg durch das Gewühle, hinüber zum früheren U-Bahn-Eingang, an dem nun die Fahnen der letzten Präsilesung flattern, verblichen vom letzten Regen, gelbe Fetzen, umlagert von Bettlern mit Trommeln und Pfeifen. Ich steige über Menschen hinweg, die sich auf dem Boden wälzen und schreien. Keiner hält mich auf.
MINGUS
Die Wut hockt in mir wie ein Schmerz.
Auch nachts, wenn ich schlafe, lässt diese Wut nicht locker. Ich komme ihr nicht aus. Viele Tage und Nächte sind so vergangen. Auch am Tag habe ich Träume, die mich zum Schwitzen bringen, als hätte ich Fieber, aber die Nächte sind schlimmer. Ich liege, ohne mich bewegen zu können, in Kälte, in blendendem Licht. Sie haben mich wieder festgemacht, auf diesem Tisch unter dem schrecklichen Licht, unter der durchsichtigen Haube, hilflos, nackt, festgebunden. Ich rede mir zu in meinem Traum. Ich sehe, was ich tun will, tun kann, tun werde: Ich reiße die Riemen ab von meinen Armen, ich zersplittere die gläserne Luft über mir, ich brülle, ich springe den Quälern an die Kehle, ihre Hände überall auf mir, ich packe sie, werfe sie nieder. Ich fühle ihre Knochen zwischen meinen Zähnen zerbrechen, mein Mund ist voller Blut. Brüllend tauche ich auf.
Tara schüttelt mich. Es ist dunkel, und sie hält mir eine Schale mit süßem Wasser hin. Sie spricht, ich verstehe nicht alles, was sie sagt. Aber der Ton ihrer Stimme ist schön, und ich höre sie gerne sprechen. Ich bin schon lange hier. Als ich kam, war Frühling, sagt Tara, und jetzt ist Herbst. Ich habe nicht auf den Mond geachtet, und Tara sagt, man könnte ihn oft gar nicht sehen von hier aus, denn der Himmel über der Stadt ist schmutzig.
Tara ist weißhaarig wie Papa, aber mit viel mehr Haaren, und sie ist viel kleiner als er. Ihre Stimme ist heller und weicher. Sie ist kein Mann wie Papa – wie ich. Sie ist eine Frau, sagt sie. Ich bin ein Mann. Es gibt Männer und Frauen hier. Sie hat es mir gezeigt. Sie hat ihre blaue Tunika ausgezogen, damit ich sie verstehe. Sie sehen anders aus, die Frauen. Sie können Babys in sich wachsen lassen und sie dann mit den eigenen Körpersäften füttern. Milch, sagt sie. Aus der Brust. Sie hat mir alles gezeigt. Ich gefalle mir besser. Ich möchte nicht so aussehen wie Tara.
Sie zeigt mir auch dieses große leere Haus. Sie wohnt hier ganz alleine. Sie zeigt mir die Treppen, die Zimmer, die Vorräte von Essen, die Welt weit unten. Sie sagt, auf dieser verlassenen Straße gab es früher viele Menschen, die dort herumwimmelten. Sie sagt, jetzt darf keiner mehr hier wohnen. Alles hier ist angeblich vergiftet. Aber sie glaubt das nicht.
Ich verstehe, dass ich nicht hinauskann. Ich bin hier gefangen. Ich bin wieder gefangen. Ich werde hierbleiben, bis ich genug gegessen habe und genug geschlafen. Aber das sage ich ihr nicht. Ich brauche einen Plan. Papa sagt, man braucht immer zuallererst einen Plan. Sie fragt mich nach Papa, aber ich mag nicht an ihn denken, er liegt da am Boden, ich habe ihn
Weitere Kostenlose Bücher