Mingus
Genies und die Pfuscher. Mir ist ganz heiß vor Aufregung, und ich kann nicht bleiben, halte es nicht mehr aus, mache michauf den Heimweg. Vielleicht ist er aufgewacht und geflohen, während ich hier stehe und seit Jahren zum ersten Mal so etwas wie Freude fühle und so etwas wie Aufregung. Er gehört mir. Zu mir ist er gekommen. Ich werde ihn beschützen. Ihn einzusperren hätte keinen Sinn, das weiß ich, und es hätte auch keinen Sinn, ihn zu bewachen. Er wird bleiben, wenn er das will. Ich werde dafür sorgen, dass er mir vertraut. Ich weiß nicht mal, ob er sprechen kann, ob er mich verstehen kann, ob er überhaupt einen Funken Verstand hat. Ich habe ihm, ehe ich ging, eine Dose Thunfisch hingestellt, eine Kostbarkeit. Und einen Dosenöffner daneben gelegt. Mal sehen, ob er die Dose aufmachen kann, ob er sie aufgemacht hat.
Ein kleiner Suchtrupp der Ci-Po, sieben Robos in gelben Overalls, zerteilt die Menge im Laufschritt. Ich hocke mich mit gesenktem Kopf in eine Hauseinfahrt. Ich habe keine Papiere. Ich bin nicht mehr am Leben.
Das wertvolle Subjekt ist ihnen entwischt. Sie sind kopflos vor Verzweiflung und Wut. Eine Katastrophe für die Atox. Der Präsi hat noch nicht öffentlich Stellung zur Flucht der Anomalie genommen. Ich gönne mir ein Grinsen der Schadenfreude. Er ist entwischt, und nur ich weiß, wo er ist. Hoffentlich macht er keinen Mist und versucht, sich woanders zu verstecken. Hoffentlich haben sie ihn noch nicht ruiniert oder ihm einen Sender eingepflanzt. Nein, noch nicht.
Sie alle wohnen in der Oberstadt, meine alten Kollegen, hinter Mauern, Zäunen, bewacht von Sicherheitstruppen. Aristos. Auch das Mädchen, das bei ihm war, so heißt es,stammte von dort. Sie ist wieder bei ihren Eltern. Ich erinnere mich undeutlich daran, dass sie entführt wurde. Aus einem Badehaus, glaube ich. Das ist Jahre her. Das war damals ein Skandal. Eine junge Aristo aus der streng bewachten Oberstadt zu entführen, schien völlig unmöglich. Die Sache wurde nie aufgeklärt. Es gab Gerüchte, die Eltern seien beteiligt gewesen, aber daran glaubte niemand im Ernst. Ich erinnere mich jetzt an ihren Apell am Avatar. Diese beiden weinenden Menschen, Eltern, Aristos, beide Importeure von Human-Masse, Organen, Blutplasma, Tierkörpern. Ich habe ihren Namen vergessen. Das Mädchen, noch ein Kind, ist nun angeblich verschwunden. Das glaube ich nicht, ihre Eltern schirmen sie ab.
Wer kann so einfach eine Aristo entführen? Eine Sekte? Eine kriminelle Organisation? Der Präsi selbst? Gab es Komplizen unter den Aristos? Helfer?
Um in vitro ein Mischwesen aus Mensch und Löwe zu erschaffen, muss man ein Genie sein. Zur Forschung an Embryonen braucht man nicht nur Labore und kompliziertes technisches Gerät, sondern auch menschliches Erbgut aus Eizellhüllen, Spermien mit genetischen Informationen. Material also und viel davon. Welche Frau würde diese überaus belastende Operation der Ei-Entnahme über sich ergehen lassen? Man muss sich überdies in der Stammzellenforschung auskennen.
Wenn ich nicht wüsste, dass das unmöglich ist, würde ich sagen, er war es, Leo. Aber er ist tot, mausetot. Ich war bei ihm, noch einmal, als er schon todkrank war. Ich habe seine Hand gehalten. Ich habe ihn geliebt. Leo Baldur, das Ass der Genetik, der Vater der Tierkreuzungen. Der geflügelteStier im Park der Lustbarkeiten ist sein Geschöpf, die behaarte Schlange, Wahrzeichen der Osmologen, wurde bei ihm bestellt. Aber mit Menschenmaterial hat er nie gearbeitet. Er hatte seine Prinzipien, er war Mitglied der Alep-Sekte. Gründungsmitglied sogar. Das hat mir damals gefallen, mich angezogen, obgleich ich mich nach außen hin immer lustig machte über seine Religion. Nie hätte er mit mir zusammenleben dürfen, und doch haben wir zusammengelebt. So gut es eben ging. Sommer mit Wiesen, Bäumen und Horizont. Sauberes Wasser, viel davon in großen blauen Flächen ausgebreitet, und ich, ein junges Mädchen, eine Studentin, arglos und zuversichtlich, und er, voller Ungeduld und versessen darauf, sein Studium zu erweitern und zu brillieren, und sehr verliebt in mich. Oh, wie gut ich mich mit einem Mal daran erinnere. Später dann hat uns seine Religion getrennt, aber ich habe ihn nicht loslassen können, damals. Dann kam Boris. Dann kam mein Erfolg. Meine Reisen. Mein gutes Leben. Und doch, als er mir wieder begegnet ist, Leo … ach, ich sehe ihn noch auf mich zukommen, lachend, sein mächtiger Schädel, unter dem Blumenkranz der Alepianer …
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