Mingus
rasch, und ihn immer wieder verdunkeln. Es ist der Geruch, den der Wind heranträgt.
Nicht der Geruch des Flusses nach Schlamm und Wasser. Den kenne ich gut. Nicht der Geruch von unserem Feuer, das längst ausgegangen ist. Ein anderer Geruch. Und dann höre ich einen Ruf, tief und melodisch und, nein, es ist kein Klageruf, auch kein Hilfeschrei, und doch macht er mich traurig. Mein Fell richtet sich auf und kribbelt am ganzen Körper. Ich löse Nin vorsichtig von meinem Rücken und krieche hinaus ins Mondlicht. Es ist hell, bis die nächste Wolke den Mond verdeckt. Wieder dieser Ruf. Ich suche mir einen Weg hinunter zum Fluss, durch das Röhricht, durch die dornigen Büsche mit den schwarzen Beeren, die wir am Nachmittag gegessen haben, Nin und ich. Nin hat mir ein neues Wort beigebracht, heute Nachmittag. Es heißt bang.
»Mir ist bang«, sagt sie. »Mir ist bang, wenn du so zwei ganze Tage wegbleibst.« Bang. Und jetzt ist mir bang.
Der Mond kommt heraus, und der Wind weht mir die Mähne aus dem Gesicht. Drüben am anderen Ufer gibt es eine Bewegung, vom Schilf verdeckt. Da ist jemand. Ich lasse mich leise ins Wasser gleiten und tauche unter, um beim Schwimmen kein Geräusch zu machen. Ich tauche atemlos am anderen Ufer auf, halte mich an den Steinen. Wische mir das Wasser aus den Augen.
Der Löwe steht mit erhobenem Kopf auf der kleinen Anhöhe. Ich sehe jedes Haar in seiner Mähne, jede schwarze Warze auf seiner Schnauze. Ich sehe das Weiß in seinen Augen, seine Quaste, die unruhig hin und her geht. Auch er sieht aus, als lausche er ganz aufmerksam, ganz gespannt. Und da sehe ich sie, die Löwin. Sie springt mit einer weichen Bewegung neben ihn und reibt ihren Kopf an seiner Schulter. Das Mondlicht bringt sie zum Leuchten, die beiden mächtigen Tiere, aber sie sind nicht aus Gold, ihr Fell ist rau und wirbelig, nass vom Tau.
Ich sitze im Wasser und schaue sie an. Sie sind so schön. Meine Brust weitet sich vor Stolz. Ich weiß nicht, wie lange sie so dastehen, nebeneinander. Nur ihre Quasten bewegen sich. Nin würde sagen, sie sprechen miteinander, mit ihren Schwänzen. Und dann, ohne dass ich es bemerke, sind sie verschwunden. Der Geruch bleibt.
»Eiskalt!«, murmelt Nin und rückt von mir ab. Ich packe sie und reibe meine nasse Schnauze an ihrem Nacken.
»Morgen zeig ich dir was«, flüstere ich. Aber sie ist schon wieder eingeschlafen.
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Er ist kein Mensch. Ich schaue ihn genauer an. Doch, er ist ein Mensch, aber es gibt noch andere Vorfahren, die ihre Gene zu seinem menschlichen Erbe mischen. Eine Anomalie. Er hat spitze Ohren, er hat eine dunkle Nase, seine Schulter ist dicht behaart. Er hat eine lockige Mähne. Wie schön er ist. Jemandem ist es endlich gelungen, Tier und Mensch zu kreuzen. Ein wahres Wunder, diese schlafende Chimäre auf meinem Bett! Ein wahres Wunder!
Für Tara ist dieses Wesen ein Wunder, für Boris ein Forschungsobjekt, für Alan ist es der neue Messias, für Aglaia eine mörderische Waffe: Mingus. Dieses seltsam faszinierende Wesen wollen alle haben. Es ist aus den Wäldern gekommen und ahnte nichts von seiner Einzigartigkeit. Ein Mädchen war bei ihm, Nin, vor Jahren entführt aus der Stadt. Alle denken, er hätte sie geraubt. Niemand glaubt Nin, als sie beteuert, dass Mingus sie gerettet habe und er zu Unrecht verfolgt werde, nachdem ihm die Flucht aus den Laboren der Regierung gelungen ist. Unmöglich, dass sich ein so auffälliges Wesen lange vor dem Zugriff der Sicherheitskräfte verbergen könnte. Doch Mingus findet immer wieder Unterstützer, die ihn vor allem für ihre Ziele einzuspannen versuchen. Dabei will Mingus nur eins: Nin finden und mit ihr dorthin zurückkehren, wo sie glücklich waren. Für Nin ist es unerträglich, nicht zu wissen, wo Mingus ist und ob er überhaupt noch lebt. Er muss leben, sie würde doch spüren, wenn der Liebe ihres Lebens etwas Schreckliches zugestoßen wäre. Und so macht sie sich auf die Suche.
Informationen zur Autorin
Keto von Waberer , geboren in Augsburg, studierte Architektur in München und Mexiko. 1983 veröffentlichte sie ihren ersten Erzählband, dem viele weitere Erzählungen und Romane folgten. Für ihre schriftstellerische Arbeit wurde Keto von Waberer mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis der Stadt München 2011. Darüber hinaus ist sie auch als Übersetzerin aus dem Spanischen und Englischen hervorgetreten und lehrt seit 1998 Creative Writing an der Hochschule für Film und
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