Mio, mein Mio
leise.
»Siehst du, er will lieber bei dir sein«, sagte Jum-Jum.
Darüber war ich froh. Ich streichelte Miramis und gab ihm ein Stück Zucker, und er nahm es mit weichen Lippen aus meiner Hand. Dann ritten wir weiter durch den Wald, und die hundert weißen Pferde folgten uns. Ich spürte das Geheimnis, das uns umgab. Der ganze Wald kannte es. Jeder Baum, die grünen Linden und Espen, die so sanft über unseren Köpfen rauschten, als wir geritten kamen, die weißen Pferde und auch die Vögel, die vom Gestampfe der Hufe geweckt wurden, sie alle kannten es, nur ich nicht. Jum-Jum hatte schon recht, wenn er sagte: 73
»Du weißt so wenig, Mio.« Miramis fiel in Galopp und die anderen weißen Pferde auch. Wir ritten schnell. Mein roter Mantel blieb an einem Ast hängen. Vielleicht wollte der Baum mich zurückhalten, vielleicht wollte er mir das Geheimnis erzählen. Aber ich hatte es eilig. Ich galoppierte weiter, und in meinen Mantel kam ein großer Riß.
Mitten im Wald stand ein Haus, ein kleines weißes Haus mit einem Strohdach. Es stand zwischen Apfelbäumen.
Die Apfelblüten leuchteten im Mondschein. Ein Fenster war offen, und man hörte im Innern etwas gleichmäßig klappen. Es hörte sich an, als säße dort jemand und webte.
»Wollen wir sehen, wer dort webt?« fragte ich Jum-Jum.
»Ja, das können wir«, sagte Jum-Jum. Wir sprangen von Miramis ab und folgten dem Pfad zwischen den
Apfelbäumen zum Haus. Wir klopften an die Tür, und das Klappen hörte auf. »Kommt herein, ihr kleinen Jungen«, sagte jemand. »Ich habe schon lange auf euch gewartet.«
Wir gingen in das Haus, und da saß eine Weberin vor 74
ihrem Webstuhl.
Sie sah freundlich aus und nickte uns zu. »Warum wachst du und webst in der Nacht?« fragte ich.
»Ich webe Traumstoff«, sagte sie. »Und das muß man in der Nacht tun.«
Der Mond leuchtete ins Fenster und schien auf ihr Gewebe. Ich sah, wie schön es schimmerte.
»Märchengewebe und Traumstoff werden in der Nacht gewebt«, sagte sie.
»Was verwebst du, daß es so schön wird«, fragte ich.
Sie antwortete nicht, sondern begann wieder zu weben.
Sie schob das Schiffchen durch die Fäden und summte leise vor sich hin:
»Strahl des Mondes, Mondesstrahl,
Herzblut rot und warm,
Silber, Silber, Purpur auch,
Apfelblüte, Apfelblüte
macht Gewebe lind und weich,
weicher als der Nachtwind geht im Grase.
Und doch singt Trauervogel überm Walde …«
Sie sang leise und eintönig. Als sie geendet hatte, hörte ich draußen im Wald einen anderen Gesang, und ich 75
erkannte ihn wieder. Es war, wie die Weberin gesummt hatte: Trauervogel sang überm Walde. Er saß auf einer Baumspitze, und er sang, daß es weh tat.
»Was singt Trauervogel?« fragte ich die Weberin. Da weinte sie. Ihre Tränen tropften auf das Gewebe hinunter und wurden zu kleinen klaren Perlen, und der Stoff wurde noch viel schöner als zuvor. »Was singt Trauervogel?« fragte ich noch einmal. »Er singt von meiner kleinen Tochter«, sagte die Weberin und weinte noch mehr. »Er singt von meiner kleinen Tochter, die geraubt worden ist.« »Wer hat deine kleine Tochter geraubt?« fragte ich. Aber ich wußte es schon. Ich brauchte es nicht mehr zu hören.
»Sag den Namen nicht«, bat ich. »Nein, denn sonst erlischt der Mondschein«, sagte die Weberin. »Der Mondschein erlischt, und die weißen Pferde weinen Blut.« »Weshalb weinen sie Blut?« fragte ich. »Um des kleinen Fohlens willen, das auch geraubt worden ist«, sagte die Weberin. »Hör, wie Trauervogel überm Walde singt.« Und ich hörte durch das offene Fenster, wie Trauervogel draußen sang. Schon oft hatte Trauervogel für mich im Rosengarten gesungen, aber nie hatte ich 76
verstanden, wovon er sang. Nun wußte ich es. Er sang von all den Geraubten, von der kleinen Tochter der Weberin, von Nonnos Brüdern und Jiris Schwester und vielen, vielen anderen, die der grausame Ritter Kato eingefangen und zu seiner Burg geschleppt hatte.
Deshalb trauerten sie in den kleinen Hütten auf der Insel der grünen Wiesen und im Land auf der anderen Seite des Wassers und jenseits der Berge. Sie trauerten um die Kinder, um all die Kinder, die fort waren. Sogar die weißen Pferde im Wald der Dunkelheit trauerten und weinten Blut, wenn sie nur den Namen des Räubers hörten.
Ritter Kato! Ich hatte Angst vor ihm, große, große Angst. Aber als ich dort in dem Haus stand und Trauervogel singen hörte, da wußte ich plötzlich, warum ich in der Nacht durch den Wald der
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