Mio, mein Mio
hat wohl irgendein Mensch von einem Wasser geträumt, so schwarz wie das Wasser vor uns, das ich mit meinen Augen sah. Es war das wüsteste, schwärzeste Wasser der Welt. Und um den See herum gab es nichts als nur hohe schwarze, kahle Felsen. Über dem finsteren Wasser kreisten Vögel, viele Vögel. Man sah sie nicht, aber man hörte sie. Und nie habe ich etwas Kläglicheres gehört als ihre Schreie. Sie taten mir so leid. Es hörte sich an, als riefen sie um Hilfe. Es hörte sich an, als wären sie verzweifelt und weinten. Auf der anderen Seite des Sees, auf dem allerhöchsten
Felsen, lag eine große schwarze Burg. Ein einziges Fenster war erleuchtet. Einem Auge glich dieses Fenster, einem roten, unheimlichen und entsetzlichen Auge, das in die Nacht starrte und Böses wollte. »Ritter Katos Burg«, flüsterte Jum-Jum, und Miramis zitterte an allen Gliedern.
Ritter Katos Burg! Dort war sie. Dort auf der anderen Seite dieses schwarzen Wassers wohnte der Feind, zu dem ich gekommen war, um gegen ihn zu kämpfen.
Dieses böse Auge, das über den See starrte, erschreckte 86
mich, obwohl ich nicht mehr furchtsam sein wollte. Ich schreckte zurück. Wie sollte einer, der so klein war wie ich, jemanden besiegen können, der so böse und gefährlich war wie Ritter Kato ?
»Du müßtest ein Schwert haben«, sagte Jum-Jum.
Gerade hatte er es gesagt, als wir in der Nähe jemanden jammern hörten.
»Oh … oh … oh«, klagte die jammernde Stimme. »Ich sterbe vor Hunger. Oh … oh … oh!« Es konnte
gefährlich sein, sich dem Jammernden zu nähern. Es konnte jemand sein, der uns in eine Falle locken wollte.
Aber ich dachte: Wer es auch sein mag, ich muß ihn aufsuchen und nachsehen, ob er wirklich Hilfe braucht.
»Wir müssen sehen, wer es ist«, sagte ich zu Jum-Jum.
»Wir müssen ihm helfen.« »Ich folge dir«, sagte Jum-Jum.
»Und du, Miramis, bleibst hier«, sagte ich und streichelte Miramis’ Nase. Er wieherte ängstlich.
»Sei nicht unruhig«, sagte ich. »Wir kommen bald wieder.«
Weit entfernt konnte der Jammernde nicht sein. Doch es war schwer, ihn in der Dunkelheit zu finden. »Oh … oh 87
… oh«, hörten wir die Stimme von neuem. »Ich sterbe vor Hunger. Oh … oh … oh!« Wir tasteten uns zu der Stelle, von wo das Jammern kam, wir stolperten über Steine und stürzten in der Finsternis zu Boden. Endlich stießen wir auf eine alte Hütte. Sie war morsch und verfallen. Hätte sie sich nicht an eine Felswand gelehnt, wäre sie sicher umgefallen. Ein schwacher Schimmer drang aus dem Fenster, und wir schlichen näher und blickten hinein. Drinnen saß ein Greis, ein kleiner elend aussehender Greis mit grauem, strohigem Haar. Auf seiner Herdstelle brannte ein Feuer, und er saß davor, schwankte hin und her und jammerte: »Oh … oh … oh
… Ich sterbe vor Hunger. Oh … oh … oh!«
Wir gingen hinein. Der kleine Greis wurde ganz still und starrte uns an. Wir hatten die Tür geschlossen, und er starrte uns entgegen, als hätte er etwas wie uns noch nie gesehen. Er hielt die mageren alten Hände hoch, als fürchtete er sich.
»Tut mir nichts Böses«, flüsterte er. »Tut mir nichts Böses!«
»Wir sind nicht gekommen, um dir Böses zu tun«, sagte ich. »Wir hörten, daß du hungrig bist. Wir kommen, um 88
dir Brot zu geben.«
Und ich holte von dem Brot heraus, das ich von der Weberin bekommen hatte, und reichte es dem Greis. Er starrte mich nur weiter an und sah ängstlich aus, so furchtbar ängstlich, als glaubte er, ich wollte ihn in eine Falle locken.
Noch dichter hielt ich ihm das Brot entgegen und sagte:
»Nimm das Brot, hab keine Angst!« Da streckte er vorsichtig die Hand aus und nahm es. Er nahm es zwischen seine Hände und befühlte es. Dann hielt er es an die Nase und roch daran. Und dann begann er zu weinen.
»Es ist Brot«, flüsterte er. »Es ist Brot, das Hunger stillt.« Und jetzt aß er. Nie habe ich einen Menschen so essen sehen. Er aß und aß und weinte dabei. Er aß das Brot auf und suchte noch nach jedem Krümel, der auf seine Kleider gefallen war. Er suchte und suchte, und erst als kein Krümel mehr zu finden war, starrte er uns wieder an und sagte:
»Woher kommt ihr? Wo gibt es solch Brot? Um meiner Hungertage willen – sagt mir, woher kommt ihr?« »Wir kommen aus dem Land der Ferne. Dort gibt es Brot«, 89
sagte ich.
»Warum seid ihr hierhergekommen?« flüsterte der Greis.
»Um gegen Ritter Kato zu kämpfen«, sagte ich. Kaum hatte ich das gesagt, schrie der
Weitere Kostenlose Bücher