Mit Blindheit Geschlagen
Knie. Da legte seine Mutter die Hand auf seine und drückte sie kurz. Er schaute nach vorn und nahm erst jetzt den Sarg wahr. Der war bedeckt mit Kränzen und Schleifen. »In Dankbarkeit« stand auf der Schleife des Polizeisportvereins.
Plötzlich war es still. Der Pfarrer verließ die Kanzel. Dann erklang im Hintergrund Musik, ein Largo-Satz aus einem Violinkonzert von Vivaldi. Sein Vater hatte es geliebt und in der Interpretation von Yehudi Menuhin und dem Polnischen Kammerorchester oft gehört. Stachelmann fiel ein, wie sein Vater früher die Platte an manchem Abend auf den Dualplattenspieler gelegt und andächtig gelauscht hatte. Dann mussten alle ruhig sein, während der Vater mit halb geschlossenen Augen hörte und sein Körper kaum sichtbar mitschwang.
Als das Stück beendet war, ging der Pfarrer zur Tür, die Mutter stand auf, Stachelmann folgte ihr. Vier Männer in dunkelgrauer Kluft schleppten den Sarg hinaus. Draußen formte sich der Zug. Der Pfarrer, die Mutter und Stachelmann folgten dem Sarg. Dem voran schritt ein Junge mit einem Kreuz. Die Trauergäste bildeten den Abschluss. Sie liefen auf einem Weg aus Erde, Sand und Kiesel, vorbei an parzellenförmig geordneten Gräbern unter Bäumen mit mächtigen Kronen. Manchmal durchbrachen Sonnenstrahlen die schweren Wolken, dann glänzte die Nässe auf den Grabsteinen. Stachelmann wartete auf die Schmerzen, sie würden kommen, das war gewiss. Er tastete die Knöpfe seines Mantels ab, um sich zu vergewissern, dass sie geschlossen waren. Er fror am Hals, den Schal hatte er vergessen.
Der Zug hielt am Rand des Friedhofs, an einem weißen Grabstein. Daneben war eine Grube ausgeschachtet, zwei Schaufeln lehnten am Zaun. Die Träger stellten den Sarg ab neben der Grube. Der Pfarrer sprach von Asche und Erde, Stachelmann betrachtete den weißen Stein des Nachbargrabs. Er sah aus wie ein Hinkelstein, lief oben spitz zu. Darauf eingraviert in Versalien: Will, Adolf H.; gest. 15. Nov. 2001; geb.22. April 1954.
Was hieß »H.«? Helmut, Heinz, Hans? Da hatten Eltern ihren Sohn Adolf H. getauft, neun Jahre nach Ende des Kriegs. Der Sohn war vor genau zwölf Monaten gestorben, und Stachelmanns Vater würde neben ihm begraben sein. So würde Stachelmann auf Adolf H. treffen, wenn er das Grab seines Vaters besuchte. Aber das war noch nicht ausgemacht.
Während der Pfarrer sprach, fiel Stachelmann das letzte Gespräch mit seinem Vater ein. Das war zwei Jahre her. Sie hatten sich gestritten über die Lebenslüge seines Vaters, der Ende des Kriegs als Postbeamter Hilfspolizist wurde, um ein Bombenräumkommando aus Sträflingen zu bewachen. Er sah immer noch die Verbitterung in den Augen des Vaters. Seit dem Gespräch hatte Stachelmann nicht mehr mit ihm geredet. Nun wartete er auf das schlechte Gewissen; wenn einer tot ist, kann man nichts nachholen. Aber das schlechte Gewissen rührte sich nicht.
Seine Mutter stieß ihn leicht am Arm. Stachelmann schaute auf und sah, der Pfarrer hatte seine Ansprache beendet, die Träger senkten den Eichensarg an Seilen ins Grab. Als der Sarg abgestellt war, traten die Mutter und Stachelmann an den Rand der Grube. In einem Erdhaufen steckte eine kleine Schaufel. Die Mutter nahm sie, hob ein bisschen Erde vom Haufen und warf sie auf den Sarg. Stachelmann tat es ihr nach. Dann stellten beide sich ein Stück seitlich von der Grube auf und warteten auf die Trauergäste. Ein alter Mann warf Erde ins Grab, dann steckte er die Schaufel wieder in den Haufen und näherte sich der Mutter und Stachelmann. Der Mann gab der Mutter die Hand und murmelte etwas von Beileid, dann gab er Stachelmann die Hand. Stachelmann begegnete einem harten Blick, Hass steckte darin. Ein Paar näherte sich, sie hinkte, er ging am Stock. Auch sie drückten der Mutter die Hand, an Stachelmann gingen sie vorbei. Die Mutter warf einen kurzen Blick zu ihrem Sohn, sie schien mit den Achseln zu zucken. Eine Träne stand ihr im Augenwinkel. Von den verbleibenden Trauergästen verweigerte niemand mehr Stachelmann den Händedruck, aber freundlich schaute ihn keiner an.
Als der Letzte auf dem Weg zum Parkplatz war, fragte Stachelmann die Mutter: »Wer sind diese Leute?«
»Freunde deines Vaters.«
»Aus dem PSV?«
»Auch.«
Mitglied im Polizeisportverein war auch Hermann Holler gewesen, erst SS-Sturmbannführer, dann Makler. Wegen seiner Verbrechen in der Nazizeit waren die Frau und die Kinder seines Sohns Maximilian ermordet worden, Jahrzehnte danach. Stachelmann war
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