Mit geschlossenen Augen
dem Spiegel stehend bewundere ich mich und bin entzückt von den Kurven, die zunehmend runder werden, von den immer harmonischer und sicherer geformten Muskeln, von dem Busen, der sich unter meinem T-Shirt abzuzeichnen beginnt und mit jedem Schritt sanft wogt. Da meine Mutter zu Hause schon immer gern nackt herumgelaufen ist, bin ich mit dem weiblichen Körper von klein auf vertraut. Die Formen einer erwachsenen Frau waren für mich noch nie ein Geheimnis, doch ihr Allerheiligstes liegt in den Schamhaaren verborgen wie in einem undurchdringlichen Urwald und entzieht sich dem Blick. Wenn ich so vor dem Spiegel stehe, schicke ich oft einen Finger auf Erkundung aus, und während ich mir in die Augen sehe, überkommt mich ein Gefühl der Bewunderung und Liebe zu mir selbst. Der Genuss, mich zu betrachten, ist so groß und so überwältigend, dass er sich sofort in physischen Genuss verwandelt: Es beginnt mit einem Kitzeln und endet mit Hitzewallungen, die mir völlig neu sind und nur wenige Sekunden dauern. Danach geniere ich mich. Im Gegensatz zu Alessandra entwickle ich nie Phantasien, während ich mich berühre; vor einiger Zeit hat sie mir gestanden, dass auch sie sich anfasst, angeblich stellt sie sich dabei gerne vor, von einem Mann besessen zu werden, und zwar ziemlich brutal, sodass es fast schon wehtut. Das hat mich gewundert, mir reicht es, mich anzuschauen, um erregt zu sein; Alessandra wollte wissen, ob ich mich auch anfasse, aber ich habe verneint ‒ ich möchte auf keinen Fall die idyllische Welt zerstören, die ich mir da aufgebaut habe; sie gehört ausschließlich mir und hat keine anderen Bewohner als meinen Körper und den Spiegel ‒ Alessandras Frage zu bejahen, hätte bedeutet, sie zu verraten.
Richtig gut geht es mir eigentlich nur, wenn ich dieses Bild betrachte, das ich bewundere und liebe; alles andere ist Schau, pure Fiktion: meine Freundschaften, oberflächliche Zufallsfreundschaften im Zeichen der Mittelmäßigkeit, und auch die schüchternen Küsse, die ich dem einen oder anderen Jungen aus meiner Schule schon gegegeben habe ‒ meist überkommt mich, kaum dass sich unsere Lippen berühren, eine Art Abscheu, und wenn ich spüre, wie sie mir unbeholfen die Zunge reinschieben wollen, würde ich am liebsten davonlaufen ‒ Fiktion ist auch diese Wohnung, die so gar nicht meinem augenblicklichen Gemütszustand entspricht. Wenn es nach mir ginge, würden plötzlich alle Bilder von den Wänden fallen, klirrende Kälte zu den Fenstern hereindringen, und draußen würden keine Grillen zirpen, sondern Hunde jaulen.
Ich will Liebe, Tagebuch. Ich möchte spüren, wie mein Herz schmilzt, und sehen, wie die Stalaktiten meines Eises brechen und im Fluss der Leidenschaft und Schönheit untergehen.
20 Uhr 30
Stimmengewirr auf der Straße. Lachen, das die schwüle Sommerluft erfüllt. Ich stelle mir die Augen meiner Altersgenossen vor, wie sie leuchten, bevor sie aus dem Haus gehen, an nichts anderes denkend als an den tollen Abend, der ihnen bevorsteht. Sie werden die Nacht am Strand verbringen, Gitarre spielen und singen, ein paar werden sich zurückziehen, dorthin, wo die Dunkelheit alles zudeckt, und sich endlose Worte ins Ohr flüstern. Andere werden, sobald die Frühsonne das Wasser erwärmt hat, im Meer baden, dem morgengrauen Hüter einer unbekannten Vita marina. Sie alle werden leben und mit ihrem Leben umzugehen wissen. Okay, klar, ich atme auch, biologisch gesehen, fehlt mir nichts ... Aber ich habe Angst. Angst, das Haus zu verlassen und den vielen unbekannten Blicken zu begegnen. Ich weiß, ich lebe in ständigem Konflikt mit mir selbst: Es gibt Tage, an denen es mir hilft, unter Menschen zu sein, an denen ich das sogar dringend brauche, und dann wieder welche, da möchte ich nur allein sein. An solchen Tagen scheuche ich lustlos meine Katze vom Bett, leg mich auf den Rücken und denke nach ... Vielleicht lege ich auch eine CD auf, meistens klassische Musik. Ich und die Musik, sonst nichts, so fühle ich mich gut.
Während ich jetzt den Stimmen draußen auf der Straße lausche, bin ich innerlich zerrissen, denn ich weiß, dass heute Nacht jemand mehr leben wird als ich. Dass ich in diesem Zimmer bleiben und dem Leben lediglich zuhören werde, so lange zuhören, bis mich der Schlaf überkommt.
10. Juli 2000 10 Uhr 30
Weißt du, was ich glaube? Vielleicht war es eine hirnrissige Idee, dieses Tagebuch zu beginnen ... Ich kenne mich doch: In ein paar Tagen habe ich bestimmt den Schlüssel
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