Mit sich selbst befreundet sein
vermeidbar; nicht mehr der Utopie einer idealen Welt, in der sämtliche Probleme gelöst wären; keines Traumes einer »Erlösung«. Das Bemühen um Lebenskunst ist nicht darauf angewiesen, erst die Realisierung großer Ideen abwarten zu müssen oder gar eine Weltrevolution, um mit dem Leben »beginnen« zu können. Auch müssen nicht erst andere zum Handeln oder Lassen bewogen werden, vielmehr verfügt das Individuum selbst über sich, unmittelbar und ohne Verzug.
Mit aller Vorsicht angesichts der Ungewissheit dessen, was das »eigentlich« Richtige wäre, ermöglicht dies ein eigenes Bemühen um das Leben und Andersleben. Lebenskunst hat von Grund auf diese individuelle Dimension: Nicht anonyme Institutionen und Gemeinschaften, nicht Strukturen oder gar »Systeme« sind es, dieIdeen haben und diese umsetzen, sondern immer einzelne Individuen, auch wenn sie häufig im Verborgenen bleiben. Und doch kann in moderner Zeit selbst das Individuum nicht mehr einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Ein Schlüsselproblem der Moderne scheint darin zu liegen, dass das Individuum, das von ihr freigesetzt worden ist, keine Selbstbeziehung gewinnt oder sie immer aufs Neue verfehlt, und dies nach zwei Seiten hin: als Selbstverlust , der keine gewählte, souveräne Selbstlosigkeit ist; als Selbstsucht , die keine gewählte, souveräne Selbstbeziehung ist. Daher geht es in der Lebenskunst zuallererst um die Beziehung des Individuums zu sich selbst, deren Verfehlung zur Folge hat, dass auch die Beziehungen zu anderen nicht mehr zustande kommen. Lebenskunst ist die Sorge um ein maßvolles Selbstverhältnis, das in der Lage ist, das Selbst zu festigen und zu anderen hin zu öffnen.
Als grundlegende Aufgabe der Selbstbeziehung erscheint die Begründung eines »Wir« – zunächst jedoch nicht in der Beziehung zu anderen, sondern innerhalb des Individuums selbst. Denn ein »Ungeteiltes«, wie das Wort glauben macht, ist das Individuum längst nicht mehr, daher die Arbeit am Wir im Selbst . Insofern das Ich selbst bereits eine Vielheit ist, finden sich in ihm alle Fragen und Probleme einer Gemeinschaft und Gesellschaft, die der Integration in einer Art von Wir bedürfen, um das Leben und Zusammenleben zu ermöglichen. Die kunstvolle Gestaltung des Selbst und seiner Existenz setzt daher mit der Gestaltung der inneren Bindungen und Beziehungen ein, und das ist das eigentliche Thema dieses Buches. Damit gibt das Selbst sich selbst Struktur und Form und macht sich und sein Leben zum Kunstwerk. Mit dem Zustandekommen des inneren wird die Arbeit an einem äußeren Wir neu begründet. Erst auf der Grundlage einer Einsicht in seine Bedeutung wächst die Bereitschaft zu seiner Herstellung und Pflege. Zwar lässt sich weiterhin behaupten, der Mensch sei nun mal »von Natur aus« ein soziales Wesen, aber dies kann in moderner Zeit negiert, ignoriert unddestruiert werden, alle Beschwörungen ändern daran nichts. Zwar hat die Moderne neben Freiheit auch Gleichheit und Brüderlichkeit, mithin Gemeinsinn und Gemeinschaft proklamiert, aber der Anspruch der Freiheit, die als Befreiung verstanden wird, vermag dies von Grund auf zu unterlaufen. Das Zerbrechen von Gemeinschaft geschieht überall dort, wo Individuen Gründe dafür sehen, sich aktiv von Bindungen und Beziehungen befreien zu sollen oder sie passiv durch mangelnde Pflege schwinden zu lassen.
Nur das Individuum selbst kann die Wahl treffen, ob es sich überhaupt, und in welchem Maße, der Arbeit an einem äußeren Wir widmen will, und das ist nicht zu bedauern, denn Wir-Formen sind fern davon, unschuldige Größen zu sein: Regelmäßig werfen sie Probleme der Unterdrückung auf, denn das einzelne Ich kann unter einem gemeinsamen Wir zurückgedrängt und zum Verschwinden gebracht werden; auch Probleme der Unterstellung , denn hinter der Rede vom Wir kann sich ein einzelnes Ich verbergen, das für sich das Ganze beansprucht und andere zu diesem Zweck nur vereinnahmt. Das sind nicht zwangsläufig Argumente gegen ein Wir, aber Argumente für eine gewisse Vorsicht im Umgang damit. Dazu dient die Ausbildung einer Individualität, die nicht blind in Gemeinschaft aufgeht, sie aber auch nicht einfach nur abtut, sondern aus freien Stücken neu begründet. Die doppelte Arbeit am Wir ist letztlich eine Herstellung von Sinn , nämlich von Zusammenhängen im Inneren des Selbst wie außerhalb. Denn wenn es zutrifft, dass Sinn dort ist, wo Zusammenhänge erfahrbar und nachvollziehbar sind, muss der Verlust
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