Mit sich selbst befreundet sein
Umgangs damit es gibt. Das Selbst ginge fehl, begriffe es seine Situation als eine ausschließlich individuellbestimmte, während übergreifende Strukturen und Denkweisen seine Verfassung, sein Leben und Denken beeinflussen – das wiederum muss nicht zu der Annahme führen, dass diese auch sein Leben leben. So wird das Handbuch zu einem Kompendium der Bedingungen, mit denen das individuelle Leben wohl zurechtkommen muss, sowie der Möglichkeiten, mit deren Hilfe es dennoch zu gestalten ist. Sein Anliegen ist dabei nicht so sehr, »Neues« zu bieten, sondern explizit zu machen, was implizit ohnehin gewusst wird, und eine Synopse zu unternehmen, eine Zusammenschau all dessen, was für die bewusste Lebensführung von Bedeutung sein kann. Ein Panorama lässt sich auf diese Weise entwerfen, eine integrale Sicht des Selbst, ein Blick auf die gesamte Landschaft des Lebens unter der Perspektive der Lebenskunst. Vom Selbst ausgehend und es in konzentrischen Kreisen letztlich doch weit überschreitend, sollen möglichst viele Aspekte von Selbst und Welt im Hinblick darauf erschlossen werden: pragmatische und wissenschaftliche, geschichtliche und zeitgeschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche, psychologische und anthropologische, terminologische und epistemologische.
Die Vorgehensweise ist eine phänomenologische im Sinne des Wortes: das Phänomen ( phainómenon ) des Lebens, wie es erscheint, so genau wie möglich wahrzunehmen und aufmerksam zu erfassen, um ihm auf logische Weise Rechnung zu tragen: nämlich seine Strukturen zu erschließen ( lógos im strukturellen Sinne) und auf schlüssige Begriffe zu bringen ( lógos im verbalen Sinne). Ausgangspunkt ist jeweils die empirisch gesättigte Beschreibung : Die Nähe zum Phänomen, wie es im Lebensvollzug erfahrbar ist, wird zum Maßstab der Begriffsbildung; mit der begrifflichen Formulierung gewinnt das diffuse Phänomen Form, mit der Form wird es gedanklich fassbarer und handwerklich handhabbarer; die Begrifflichkeit gehört daher zum Handwerkszeug der Lebenskunst. Mit dem steten Hin- und Hergehen zwischen der Nähe zum Phänomen, die sehr persönlich sein kann, und demBlick darauf von außen, der auf Distanz bedacht ist, entsteht ein Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis: Im Bewusstsein lässt sich das Sein durchdenken, um es besser zu verstehen und gegebenenfalls zu verändern. Die phänomenologische Vorgehensweise wird dabei um eine hermeneutische ergänzt, Hermeneutik verstanden als Kunst der Deutung und Interpretation , um deutlich zu machen, dass nicht »die Wahrheit des Lebens schlechthin« zur Debatte steht. Die Frage nach Sinn, nach Zusammenhängen, nach Bedeutsamkeit, Gewichtigkeit, Unverzichtbarkeit für das Selbst und sein Leben deutend anzugehen, lässt andere Möglichkeiten der Deutung von Grund auf offen. In der Begegnung mit den Phänomenen des Lebens und im deutenden Umgang damit, im deutenden Umgang auch mit sich selbst, lassen sich die Mühen bewältigen und die Lüste bestärken, die beide das Glück der Fülle eines schönen Lebens ausmachen, abseits allzu simpler Konzepte der Lebensverschönerung, von denen der Begriff ebenfalls in Beschlag genommen wird.
Und doch kann ein Unbehagen an der Selbstbeziehung entstehen, wenn sie dermaßen ins Zentrum gerückt wird; und dies aus mehreren Gründen: Jede Konzentration auf den Umgang mit sich birgt die Gefahr einer Vereinsamung des Selbst in sich. Auch wenn die Beziehungen zu anderen stets im Blick behalten werden, so ist doch unentwegt vom Selbst die Rede – der bisweilen eisige Eindruck, den dies hervorruft, ist ein deutliches Indiz dafür, wie wenig das Selbst nur für sich selbst da sein kann: Nur in der Beziehung zu anderen wird es sich seiner eigenen Existenz gewiss. Und die Rede vom Umgang mit sich riskiert den Vorwurf einer Vereinfachung des Selbst und seines Lebens noch aus anderen Gründen: Ist denn das Selbst etwa theoretisch zu entschlüsseln und das Leben theoretisch zu erlernen? Aber es kann nicht darum gehen, eine Theorie zu entwerfen, deren Ableitung das praktische Leben nur wäre. Zweifellos gilt der Grundsatz, dass das Leben nur durch Leben zu erlernen ist; allerdings auch, dass ein gelegentliches Innehalten und Nachdenken zur Orientierunghierbei sinnvoll erscheint: erst das Leben, dann das Philosophieren, primum vivere, deinde philosophari . Zum endlosen Grübeln muss das Nachdenken nicht werden, denn das Leben kann nicht aufgeschoben werden, bis definitive Klärungen erfolgt
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