Mitternacht
schmiedeeisernen Zaun. Er kam in den Garten eines etwas heruntergekommenen viktorianischen Hauses, dessen Besit zer das Gestrüpp so hatten verwildern lassen, daß es aussah, als würde eine makaber gezeichnete Familie aus der Feder von Gahan Wilson hier hausen. Er ging leise an der Seite des Hauses vorbei, über den Vorgarten und zum Pacific Drive, einen Block südlich der Ocean Avenue.
Die Stille der Nacht wurde nicht von Sirenen gestört. Er hörte keine Rufe, keine hastigen Schritte, keine alarmierenden Schreie. Aber er wußte, er hatte eine Bestie mit vielen Köpfen geweckt, und diese unvergleichlich gefährliche Hy dra würde nun in der Stadt nach ihm suchen.
36
Mike Peyser wußte nicht, was er tun sollte, wußte es nicht, er hatte Angst, war verwirrt und hatte Angst, daher konnte er nicht klar denken, aber er mußte schnell und klar denken, wie ein Mensch, aber der wilde Teil in ihm drängte sich immer wieder vor; sein Verstand arbeitete rasch, und er war messerscharf, aber er konnte nicht länger als ein paar Minuten einem zusammenhängenden Gedankengang folgen. Schnelles Denken, blitzschnelles Denken, reicht nicht aus, ein Problem wie dieses zu lösen; er mußte schnell und tiefschürfend denken. Aber seine Konzentration war nicht mehr, was sie einmal gewesen war.
Als es ihm endlich gelang, mit Schreien aufzuhören und vom Küchenboden aufzustehen, eilte er ins dunkle Eßzimmer, durchs unbeleuchtete Wohnzimmer, durch den kurzen Flur ins Schlafzimmer, dann weiter ins Bad, teilweise auf allen Vieren, erhob sich aber auf die Hinterfüße, als er die Schlafzimmerschwelle überschritten hatte, konnte sich jedoch nicht ganz aufrichten, war aber immerhin flexibel genug, halb aufrecht zu stehen. Im Bad, das nur schwach und leicht flackernd vom Mondlicht erhellt wurde, das durch das kleine Fenster auf den Spiegel des Medizinschränkchens fiel, packte er den Waschbeckenrand und sah in den Spiegel vor dem Medizinschränkchen, wo er nur ein schattenhaftes Spiegelbild von sich erkennen konnte, ohne Ein zelheiten.
Er wollte glauben, daß er tatsächlich wieder in seine natürliche Gestalt zurückgekehrt war, daß das Gefühl, im verwandelten Stadium gefangen zu sein, nur eine Halluzination war, ja, ja, das wollte er glauben, mußte es unbedingt glauben, glauben, obwohl er nicht völlig aufrecht stehen konnte, obwohl er die Unterschiede in seinen unglaublich langfingrigen Händen und der seltsamen Haltung des Kopfes auf den Schultern bemerkte, und nicht zuletzt daran, wie der Rücken sich mit den Hüften vereinte. Er mußte es glauben.
Mach das Licht an, sagte er sich.
Er konnte es nicht.
Mach das Licht an.
Er hatte Angst.
Aber er mußte das Licht einschalten und sich ansehen. Er umklammerte das Waschbecken und konnte sich nicht bewegen.
Mach das Licht an.
Statt dessen beugte er sich zu dem dunklen Spiegel und betrachtete die undeutliche Spiegelung, sah wenig mehr als den bersteinfarbenen Glanz seltsamer Augen.
Mach das Licht an.
Er stieß ein dünnes Wimmern von Zorn und Entsetzen aus.
Shaddack, dachte er plötzlich, Shaddack, er mußte es Shaddack erzählen, vielleicht würde Tom Shaddack wissen, was zu tun war, Shaddack war seine beste Hoffnung, möglicherweise seine einzige Hoffnung, Shaddack.
Er ließ das Waschbecken los, sank zu Boden, eilte aus dem Bad ins Schlafzimmer, zum Telefon auf dem Nachttisch. Beim Laufen wiederholte er den Namen immer wieder mit einer abwechselnd schrillen und kehligen, schrillen und flüsternden Stimme, als wäre er ein Zauberwort: »Shaddack, Shaddack, Shaddack, Shaddack...«
37
Tessa Lockland suchte in einer rund um die Uhr geöffneten Münzwäscherei vier Blocks östlich des Cove Lodge und einen halben Block von der Ocean Avenue entfernt Schutz. Sie wollte an einem hellen Ort sein, und die Reihen der Neonlichter an der Decke ließen keinen Schatten entstehen. Sie war allein in der Wäscherei, saß auf einem zerschrammten gelben Plastikstuhl und starrte die Reihen von Wäschetrockneröffnungen an, als würde das Verstehen durch eine kosmische Quelle zu ihnen kommen, die durch diese gläsernen Kreis e kommunizieren würde.
Als Dokumentarfilmemacherin mußte sie ein Auge für die Muster des Lebens haben, die einem Film den erzählerischen und visuellen Zusammenhang geben konnten, daher bereitete es ihr keine Mühe, die Muster von Dunkelheit, Tod und unbekannten Kräften in dieser heimgesuchten kleinen Stadt zu erkennen. Die fanatischen Geschöpfe im Hotel waren
Weitere Kostenlose Bücher