Mitternacht
der Stadt schliche. Sie würde auf der Autobahn vielleicht mitgenommen werden - vielleicht sogar von einem ehrlichen Trucker und nicht von einem mobilen Psychopathen -, aber sie würde zwischen Moonlight Cove und der Straße durch eine dunkle, ländliche Gegend laufen müssen, wo das Risiko, auf weitere dieser mordlüsternen Bestien zu treffen, die die Moteltür eingeschlagen hatten, sicher noch größer war.
Selbstverständlich hatten sie sie an einem öffentlichen und hell erleuchteten Ort verfolgt. Sie konnte nicht davon ausgehen, daß sie in dieser Wäscherei sicherer war als im dunklen Wald. Wenn die dünne Haut der Zivilisation aufplatzte und das urzeitliche Entsetzen hervorbrach, dann war man nirgendwo sicher, nicht einmal auf den Stufen einer Kirche, wie sie es in Nordirland und anderswo gelernt hatte.
Dennoch würde sie sich ans Licht halten und die Dunkelheit meiden. Sie war durch eine unsichtbare Wand zwischen der Wirklichkeit, wie sie sie immer gekannte hatte, und einer anderen, feindlicheren Welt getreten. Solange sie in die ser Zwielichtzone blieb, schien es klug, davon auszugehen, daß Schatten noch weniger Sicherheit und Schutz boten als hell erleuchtete Orte.
Aber damit hatte sie keinen Plan, wie sie vorgehen sollte. Sie konnte nur in der Wäscherei sitzenbleiben und auf den Morgen warten. Bei Tageslicht riskierte sie vielleicht den langen Fußmarsch zur Autobahn.
Das blanke Glas der Wäschereifenster erwiderte ihren starrenden Blick.
Ein Herbstfalter stieß leise gegen die Plastikverkleidung der Neonlichter.
38
Da sie nicht kühn nach Moonlight Cove hineingehen konnte, wie sie es vorgehabt hatte, verließ Chrissie die Holliwell Road und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sie blieb im Wald und schlich vorsichtig von Baum zu Baum, wobei sie sich bemühte, jedes Geräusch zu vermeiden, das die Wachtposten unter den Bäumen möglicherweise hätten hören können.
Nach ein paar Metern, als die Männer sie bestimmt nicht mehr sehen oder hören konnten, schritt sie wackerer aus. Schließlich kam sie zu einem der Häuser an der Landstraße. Das einstöckige Ranchhaus lag hinter einem großen Vorgarten; es wurde von mehreren Pinien und Fichten abgeschirmt und war im schwachen Mondschein kaum auszumachen. Weder drinnen noch draußen brannten Lichter, und alles war still.
Sie brauchte Zeit zum Nachdenken und mußte aus der kalten, klammen Nacht fortkommen. Sie hoffte, daß keine Hunde auf dem Grundstück waren, und eilte zur Garage, wobei sie sich vom Kiesweg fernhielt, um keinen unnötigen Lärm zu machen. Es gab, wie sie vermutet hatte, neben dem großen Tor, durch das das Auto hinein - und hinausfuhr, noch eine kleine Seitentür. Sie war unverschlossen. Sie trat in die Garage und machte die Tür hinter sich zu.
»Chrissie Foster, Geheimagentin, drang tapfer und kühn durch eine Seitentür ins Lager des Feindes ein«, sagte sie leise.
Das Leuchten des untergehenden Mondes drang durch die Scheiben der Tür und durch zwei hohe, schmale Fenster an der Westseite herein, aber es reichte nicht aus, etwas zu erhellen. Sie konnte nur dunkel ein paar Krümmungen von Chrom und Glas sehen, die eben ausreichten, die Anwesenheit von zwei Autos anzudeuten.
Sie tastete sich mit der Vorsicht einer Blinden zum ersten Fahrzeug, streckte beide Hände vor sich aus und hatte ständig Angst, sie könnte etwas umstoßen. Das Auto war nicht verschlossen. Sie schlüpfte hinter das Lenkrad und ließ die Tür offenstehen, damit das tröstliche Innenlicht anblieb. Sie vermutete, daß, wenn jemand im Haus aufwachte und nach draußen sah, er dieses Licht durchs Garagenfenster sehen konnte, aber dieses Risiko mußte sie eingehen.
Sie suchte im Handschuhfach, in den Ablagen an den Türen und unter den Sitzen, weil sie hoffte, etwas zu essen zu finden, da viele Leute Schokoriegel oder Erdnüsse oder Kekse im Auto aufbewahrten, damit sie während der Fahrt et^ was zu knabbern hatten. Sie hatte zwar am Nachmittag gegessen, als sie in der Vorratskammer eingesperrt gewesen war, aber das war jetzt zehn Stunden her. Ihr Magen knurrte. Sie ging nicht davon aus, daß sie einen Eisbecher mit heißen Früchten oder ein Aspiksandwich finden würde, aber sie hatte sich doch mehr erhofft als einen einzigen Kaugummistreifen und einen grünen Verbandskasten, den sie staubig und schmutzig und voller Teppichfusseln unter dem Sitz hervorgeholt hatte.
Sie sagte, als würde sie Zeitungsschlagzeilen lesen: HUN - GERTOD IM
Weitere Kostenlose Bücher