Mitternachtsmorde
abgeschlachtet.«
»Ich kenne niemanden, der es mehr verdient hätte, dass man ihm die Reifen aufschlitzt, aber seine Hühner tun mir leid«, sagte Helen und spazierte zurück in ihr Büro. Jesse Bingham war berüchtigt für seine pathologische Feindseligkeit und reichte praktisch jedes Mal, wenn ihm jemand über den Weg lief, Anzeige ein.
Auch Knox taten die Hühner leid. Es mochten dumme Vögel sein, aber Jesse Bingham zu gehören, war eindeutig Strafe genug.
Er bog aus dem Parkplatz links ab auf die Fourth Avenue, die direkt auf den Highway führte. Als er an der Ampel wartete, um rechts abzubiegen, sah er genau gegenüber dem Highway eine einsame Gestalt auf dem Brookhaven Cemetery stehen. Spontan schaltete er den Blinker wieder aus und fuhr, als die Ampel auf Grün wechselte, quer über die Kreuzung zur Friedhofseinfahrt.
Er parkte unter dem breiten Schatten einer hundertjährigen Eiche, stieg aus und spazierte über das dichte Gras zu der einsamen Frau, die dort stand, eine Hand leicht auf einen Grabstein aus weißem Marmor gelegt. Er wusste, auch ohne hinzusehen, was auf dem Grabstein stand: Rebecca Lacey, geliebte Tochter von Edward und Ruth Lacey, gefolgt von ihrem Geburts- und Todesdatum. Wäre sie drei Monate später gestorben, hätte auf dem Grabstein gestanden: Rebecca Davis, geliebte Ehefrau von Knox Davis. Er legte den Arm um die Frau, die daraufhin wortlos den Kopf an seine Schulter lehnte. Gemeinsam blickten sie auf das Grab der jungen Frau, die sie beide geliebt hatten: ihre Tochter, seine Verlobte.
»Sieben Jahre sind es jetzt«, sagte sie leise. »Manchmal denke ich tagelang nicht an sie, aber wenn mir das dann auffällt, ist es fast noch schlimmer als an den Tagen, an denen ich sie so intensiv vermisse, als wäre es gestern gewesen.«
»Ich weiß«, sagte er, weil er es wirklich wusste. Als er zum ersten Mal gemerkt hatte, dass er am Vortag kein einziges Mal an Rebecca gedacht hatte, war das Gefühl, sie betrogen zu haben, kaum auszuhalten gewesen. Aber die Zeit blieb nicht stehen, und die Lebenden mussten entweder weiterleben oder ebenfalls sterben; so oder so drehte sich die Welt unaufhaltsam weiter, bis der leere Platz irgendwann ausgefüllt war. Inzwischen konnte er an Rebeccas Grab stehen, ohne das Gefühl zu haben, dass ihm ein Dolch ins Herz gebohrt wurde. Seitdem die Erinnerung an ihre Liebe ein wenig verblasst war, konnte er endlich voller Zuneigung an sie denken. Die gemeinsame Zeit würde er wahrscheinlich immer lieben, dieses Versprechen auf ein trautes Glück, aber inzwischen war sie seit sieben Jahren von ihm gegangen und er nicht mehr in sie verliebt.
Er küsste die Frau, die um ein Haar seine Schwiegermutter geworden wäre, auf die Stirn. Für sie war das anders; Rebecca würde immer ihr Kind bleiben, und an dieser Art von Liebe würde sich nie etwas ändern. Es war eine Liebe, die unabhängig von allen Hormonen oder chemischen Prozessen weiterleben würde, die keine Nähe brauchte. Andererseits kannte auch Ruth jene Tage, an denen die Erinnerungen ausblieben, was vielleicht der Weg der Natur war, den Schmerz in erträglichen Grenzen zu halten.
Ruth Lacey war eine schlanke, jung aussehende Frau von dreiundfünfzig Jahren. Ihr Haar, in dem es kaum graue Strähnen gab, hatte sie zu einer koboldhaften Frisur geschnitten, die ihrem zarten Gesicht schmeichelte. Als Rebecca geboren wurde, war sie zwanzig gewesen, was ihr inzwischen lächerlich jung erschien. Ed, ihr Mann, hatte sie praktisch vom Hochzeitstag an regelmäßig betrogen, aber sie war aus Gründen, die sich niemandem außer ihr selbst erschlossen, bei ihm geblieben. Vielleicht hatte er ihr den Geschmack an der Ehe so gründlich vergällt, dass sie nicht einmal den Versuch unternahm, sich von ihm zu befreien, um mit einem anderen Mann zusammen sein zu können, vielleicht war sie auch aus rein praktischen Gründen bei ihm geblieben. Vielleicht liebte sie den Hurensohn wirklich. Knox wusste aus Erfahrung, dass man nie sagen konnte, was sich in fremden Beziehungen abspielte, welches Band manche Menschen zusammenhielt.
Sie war eine Frau, die offen und freimütig wirkte, in Wahrheit aber sehr verschlossen war. Als Rebecca starb, hatte Ruth ihren Schmerz und Kummer für sich behalten – und nur Knox davon erzählt. Damals hatten sie sich aneinander aufgerichtet, und sie hatte ihm offenbart, wie tief sie der Tod ihrer Tochter getroffen hatte. Nachdem sie einander durch die dunkelsten Tage geholfen hatten, waren, auch wenn
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