Mitternachtsmorde
sie sich im Lauf der Zeit weniger oft gesehen hatten, die Verbundenheit und gegenseitige Zuneigung erhalten geblieben wie bei zwei Soldaten, die Seite an Seite gekämpft und diese Kameradschaft nie vergessen hatten.
Auf Rebeccas Grab lagen immer frische Blumen. Knox hatte seinen Teil dazu beigesteuert, aber in den letzten Jahren hatte vorwiegend Ruth dafür gesorgt. Letztes Jahr war er überhaupt nicht auf den Friedhof gekommen, wenn er sich recht erinnerte. Die drei Jahre davor war er nur an Rebeccas Todestag hier gewesen.
Komisch, aber als Ruth und er am Tag nach Rebeccas Tod praktisch an derselben Stelle wie jetzt gestanden hatten, hatte Ruth ihm prophezeit, wie es sein würde: »Eine Weile«, hatte sie gesagt, »wirst du dauernd herkommen; dann wirst du allmählich loslassen können. Du wirst vielleicht an ihrem Todestag kommen oder an ihrem Geburtstag. Vielleicht an Weihnachten. Vielleicht wirst du selbst das vergessen und gar nicht kommen. So soll es auch sein. Du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben. Du musst dein Leben leben, und das kannst du nicht, wenn du dich an etwas festklammerst, das nie eintreffen wird.«
Er bückte sich, um ein Unkraut auszuzupfen, das dem Adlerauge des Grabpflegers entgangen war, und musste an Rebeccas Beerdigung denken, als das Grab mit Blumen überhäuft gewesen war. Sie war im März gestorben, kurz bevor der Frühling mit voller Kraft eingesetzt hatte. Er hatte bei ihr übernachtet – sie waren zwar verlobt gewesen, aber noch nicht zusammengezogen –, und als sie am Morgen aufgestanden war, hatte sie gesagt: »Ich habe höllische Kopfschmerzen. Ich nehme lieber ein Aspirin.« Sie war in die Küche gegangen, und er war unter die Dusche gehüpft. Als er geduscht und sich rasiert hatte, war er ihr in die Küche gefolgt und hatte sie auf dem Boden liegend gefunden; da war sie bereits tot. Er hatte den Notarzt gerufen und sie wiederzubeleben versucht, obwohl er wusste, dass es dafür zu spät war, aber er hatte es nicht fertig gebracht, es nicht zu versuchen. Als die Sanitäter eintrafen, war er völlig außer Atem und schweißnass, aber er hatte immer noch nicht aufhören können, weil sein Herz einfach nicht akzeptieren konnte, was sein Kopf längst wusste.
Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass in ihrem Gehirn eine enorm erweiterte Arterie geplatzt war. Selbst wenn sie an diesem Morgen in der Notaufnahme gestanden hätte, hätte niemand so schnell reagieren können, dass sie gerettet worden wäre. Und so war sie mit sechsundzwanzig Jahren gestorben, zwei Wochen vor ihrem Jungfernabschied und neun Wochen vor ihrer Hochzeit.
Damals hatte er angefangen, sich mit Arbeit zu betäuben, und bis jetzt, sieben Jahre später, hatte sich nichts daran geändert. Vielleicht war es an der Zeit, allmählich auf sechzig Stunden runterzugehen. Er war kaum mit anderen Frauen ausgegangen – wer rund um die Uhr arbeitete, hatte keine Zeit für ein Date – und hatte sich infolgedessen seit Rebecca mit keiner Frau mehr eingelassen. Er war jetzt fünfunddreißig Jahre alt und er wurde mit tödlicher Sicherheit nicht jünger.
»Und wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten?«, fragte Ruth leise und riss ihn damit aus seinen Gedanken. »Und wenn ich an den Tag vor ihrem Tod zurückkehren könnte und darauf bestehen würde, dass sie ins Krankenhaus fährt, weil ich wüsste, was ihr droht?«
»Ich glaube nicht an ›und wenn‹«, sagte er, aber er sagte es freundlich. »Wir müssen nehmen, was kommt, und uns damit abfinden.«
»Hast du dir nie gewünscht, es wäre anders gekommen?«
»Tausendmal und auf tausend verschiedene Weisen. Aber es ist nie anders gekommen. Dies ist die Wirklichkeit, und manchmal geht sie dir echt an die Nieren.«
»Das hier tut es jedenfalls.« Sie strich über den Grabstein ihrer Tochter.
»Kommst du noch oft her?«
»Nicht so oft wie früher. Ich war ein paar Monate nicht hier und wollte wieder einmal frische Blumen bringen. Ich komme längst nicht mehr so oft wie anfangs, und es macht mich ganz krank, dass sie mir so entgleitet.«
»Wie gesagt, das Leben geht weiter.« Er legte wieder den Arm um ihre Taille und drehte sie mit sanfter Gewalt vom Grab weg.
»Ich will sie nicht vergessen.«
»Ich erinnere mich weniger an ihren Tod als daran, wie sie früher war.«
»Kannst du dich noch an ihre Stimme erinnern? Meistens kann ich es nicht; aber manchmal meine ich Rebecca aus weiter Ferne zu hören, dann ist mir ihre Stimme wieder ganz deutlich im
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