Mitternachtsmorde
Prolog
Peke County Courthouse, Kentucky
1. Januar 1985
Es hatte sich nur eine kleine Gruppe von etwa fünfzig Menschen versammelt, um zuzuschauen, wie die Zeitkapsel neben dem Flaggenmast vor dem Gerichtsgebäude des Countys in den Boden eingelassen wurde. Der erste Tag des neuen Jahres war kalt und windig, und der bleierne Himmel spuckte unentwegt winzige Schneeflocken auf sie nieder. Die Gruppe bestand mindestens zur Hälfte aus Menschen, die von Amts wegen, aus Karrieregründen oder nur auf massiven Druck hin hier waren: dem Bürgermeister und den Stadträten, dem Friedensrichter, vier Anwälten, dem County Commissioner, ein paar Geschäftsleuten, dem Sheriff, dem Polizeichef, dem Rektor der Highschool und dem Coach des Footballteams.
Es waren auch einige Frauen anwesend: die Schulinspektorin Mrs Edie Proctor sowie die Gattinnen von Politikern und Anwälten. Ein Reporter des Lokalblattes war ebenfalls erschienen und machte sowohl Notizen als auch Fotos, da die Zeitung zu klein war, als dass sie sich einen professionellen Fotografen leisten konnte.
Kelvin Davis, der Besitzer der Haushaltswarenhandlung, stand neben seinem fünfzehnjährigen Sohn. Eigentlich waren sie nur hier, weil das Gerichtsgebäude genau gegenüber dem Laden lag, über dem er und sein Sohn wohnten, weil die Übertragung des Neujahrs-Footballspieles noch nicht begonnen hatte und weil sie sonst nichts zu tun hatten. Knox, der große, schlaksige Knabe, hatte die Schultern gegen den Wind zusammengezogen und studierte die Gesichter aller Anwesenden. Er war ein ungewöhnlich aufmerksamer Junge und brachte die Erwachsenen dadurch bisweilen in Verlegenheit, aber er machte keinen Ärger, half Kelvin oft nach der Schule im Laden, schrieb gute Noten und war bei seinen Kameraden allgemein beliebt. Alles in allem fand Kelvin, dass er mit seinem Sohn Glück hatte.
Vor neun Jahren waren sie von Lexington nach Pekesville gezogen. Kelvin war Witwer und gedachte, es zu bleiben. Er hatte seine Frau geliebt, wohl wahr, aber eine Ehe war kein Spaziergang, und er war nicht scharf darauf, das noch einmal durchzumachen. Ab und zu ging er mit verschiedenen Frauen aus, aber nicht so regelmäßig, dass eine davon auf falsche Gedanken kam. So wie er es sah, würde er seine Einstellung zur Ehe vielleicht überdenken, wenn Knox die Highschool und das College hinter sich hatte, aber vorerst wollte er sich ganz darauf konzentrieren, seinen Sohn großzuziehen.
»Dreizehn«, sagte Knox unvermittelt mit gesenkter Stimme. Seine dunklen Brauen zogen sich in einer tiefen Falte zusammen.
»Dreizehn was?«
»Sie haben dreizehn Sachen in die Kapsel gelegt, obwohl in der Zeitung stand, dass es nur zwölf sein sollten. Würde mich interessieren, was sie noch dazugepackt haben.«
»Bist du sicher, dass es dreizehn waren?«
»Ich habe mitgezählt.«
Natürlich hatte Knox mitgezählt. Kelvin seufzte still; er hatte nicht wirklich daran gezweifelt, dass es dreizehn Gegenstände waren. Knox schien absolut alles wahrzunehmen und zu überprüfen. Wenn in der Zeitung stand, dass zwölf Gegenstände in die Zeitkapsel gegeben würden, dann würde Knox mitzählen, um sicherzugehen, dass die Zeitung richtig berichtet hatte – oder, wie in diesem Fall, falsch.
»Würde mich echt interessieren, was sie noch dazugepackt haben«, sagte Knox noch einmal und starrte dabei stirnrunzelnd auf die Zeitkapsel. Der Bürgermeister war gerade dabei, die Kapsel – genauer gesagt war es eine sorgsam in wasserdichtes Plastik eingeschweißte Metallkassette – in das tags zuvor ausgehobene Loch zu versenken.
Der Bürgermeister sprach ein paar Worte, die Zuschauer lachten, und der Coach des Footballteams begann Erde auf die Kassette zu schaufeln. In einer knappen Minute war das Loch aufgefüllt, und der Coach stampfte den Dreck auf gleiche Höhe mit dem umgebenden Rasen. Natürlich war etwas Erde übrig geblieben, die der Coach jedoch nicht aufhäufte. Daraufhin hoben der Bürgermeister und einer der Stadträte eine kleine Granitplatte an, auf der das aktuelle Datum eingraviert war sowie das, an dem die Zeitkapsel wieder geöffnet werden sollte – es war das Datum des heutigen Tages in genau hundert Jahren –, und ließen sie mit einem dumpfen Schlag auf die frische Erde fallen. Wahrscheinlich hatten sie vorgehabt, die Platte andächtig niederzulegen und dabei die für den Reporter mit seiner Blitzkamera gebotene Würde auszustrahlen, aber offenbar war der Stein schwerer, als sie gedacht hatten,
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