Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol: Kreuzberger Szenen (German Edition)
aufschreiben wolle für eine Anthologie mit dem Titel »Little Criminals«. Er wollte nicht. Wegen seiner Tochter. Sie wird jetzt nie erfahren, was für einen tollen Vater sie hatte. Meiner Tochter hätte ich das schon kurz nach der Geburt erzählt, und später dann auch immer wieder mal, und jedes Mal wäre die Geschichte besser geworden. Ich meine, dazu sind solche grandiosen Geschichten doch da. Oder, Wolfgang?
In der Milchbar
Da will ich nur ein paar Spagetthi essen, fragt mich die Bedienung: »Geht’s Ihnen nicht gut?« Eigentlich schon, aber jetzt, wo mich die Frau fragt, geht’s mir auf jeden Fall schon mal ziemlich schlecht.
Irgendwie glaube ich mich rechtfertigen zu müssen: »Naja, vielleicht bin ich von gestern ein bisschen angeschlagen, aber mein Gott, sieht man mir das so an?«
»Manche sind eben so sensibel und gucken ihre Gäste an, die anderen interessiert das eben nicht, wie es den Gästen geht«, sagt sie.
Ich finde, Bedienungen müssen so sensibel auch wieder nicht sein, und deshalb flüchte ich in die »Milchbar«, denn hier ist man vor sensiblen Bedienungen sicher. Hier wüsste nicht mal jemand, wie man sensibel buchstabiert.
Die »Milchbar« in der Manteuffelstraße ist ein dunkler Punkschuppen, den man hinter dem harmlosen Namen nicht unbedingt vermuten würde, und in dem Herta ein unerbittliches Regiment führt, ein hartgesottener BVB-Fan, den man hinter diesem alles andere als harmlosen Namen nicht unbedingt vermuten würde. Sie könnte in einem Film von Sergio Leone mitspielen, mit Haaren auf den Zähnen, schwerst gepierct, wahrscheinlich mit BVB-Ringen, mit BVB-T-Shirt und wildem Blick, der einem den Angstschweiß auf die Stirn treibt, wenn man etwas anderes als Bier bestellen möchte, weshalb man sich lieber gut mit ihr stellt.
Hier gibt es die Spiele des BVB in voller Länge zu sehen. Und deshalb muss ich aus Gründen der Leidenschaft für den Ballspielverein Borussia dort hin, obwohl es eine blöde Gewohnheit ist, bei strahlendem Sonnenschein auf eine Leinwand zu starren, auf der die Kugel nur manchmal als weißer Punkt aufblitzt, wo man sie nicht vermutet hatte, und auch die Spieler irgendwie undeutlich durch die Gegend laufen.
Dumpfes »Sieg«-Gegröle und Fahnenschwenken ist verboten, und das kann Herta gar nicht hoch genug angerechnet werden. Sonst aber ist alles erlaubt. Jedenfalls fast. Die Einrichtung sollte man nicht auseinandernehmen, aber da müsste man sich viel Mühe geben, denn sie ist sehr stabil und festgeschraubt.
In der »Milchbar« herrscht eine verlässliche Redundanz. »Schiri, was pfeifst du!«, brüllt alle fünfzehn Sekunden eine Stimme mit türkischem Akzent. Das klingt wie ein Rap-Song, ist aber nur das Mantra einer Gruppe türkischer Jugendlicher, die offenbar Mitte der Neunziger, also in der großen Zeit des BVB, sozialisiert wurde und nicht richtig loslassen kann.
Direkt vor der Leinwand sitzt ein großer und kurzsichtiger Drei-Zentner-Mann und vertilgt bis zum Abpfiff immer genau sechs Weizen, ohne einen Ton von sich zu geben. Der Mann neben mir hat das Gegentor mal wieder schon vorher kommen sehen. Das tut er immer. Auch darauf ist hundertprozentig Verlass.
»Trink dein Bier und halt die Fresse«, tönt es von hinter dem Tresen nach vor dem Tresen. Da sitze ich, aber ich bin nicht gemeint, und wenn ich gemeint wäre, hier ist der richtige Ort für ein Desensibilisierungsprogramm.
Pavillon Prisma
Die Imbissbude an der Kottbusser Brücke … »Hey, das ist doch keine Imbissbude!«, raunt mir eine Stimme zu, und zwar meine eigene. Okay, okay, sage ich. Also: Der Imbiss an der Kottbusser Brücke mit dem noblen, an die documenta gemahnenden Namen »Prisma Pavillon« ist ein Hort der Gestrandeten. Jedenfalls nachts. Und deshalb liebe ich ihn. Er ist für mich eine verlässliche Anlaufstelle, wenn ich spät abends mit dem letzten Zug aus Dortmund von einem Heimspiel des BVB zurückkehre und ein kleiner Hunger in mir nagt oder die Niederlage noch alkoholische Nachbereitung verlangt.
Im Sommer sitze ich dann auf einem Barhocker an einem selber gebastelten Tresen am Kanal und beobachte die Ratten, die etwas weiter unten auf einem Mauervorsprung nach türkischen Pizzaresten suchen, die Liebende zurücklassen. Das lauschige Plätzchen wird von Liebespaaren und Ratten bevorzugt, und ich bin fasziniert von dieser Symbiose. Oder ich beobachte die Spinnen, die rund um die Leuchtreklameschilder des »Prisma Pavillon« ihre fast blickdichten Netze weben, denn
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