Mondtaenzerin
Prolog
N och lange Zeit nach der Tragödie kam mir immer wieder in den Sinn, wie ich mich fühlte, als ich in der Dunkelheit gefangen war. Träumte ich? Wachte ich? Ich weiß noch, wie ich atmete, schnell und kurz. Diese Dunkelheit, von der ich umgeben war, schien einer inneren Anspannung zu entspringen, einer Beklemmung, dicht an der Grenze zum Schmerz. Ich weiß noch, wie ich mir Fragen stellte: Wo, verdammt noch mal, war ich? Ich hatte geträumt, so viel war sicher. Der übliche Traum, der stets wiederkehrende Sturz in kaltes, grün funkelndes Unbekanntes. Ich hatte noch das aufgewühlte, schaumglitzernde Meer vor Augen. Kein Geräusch aber, an das ich mich erinnerte. Das Wasser schien sich zu heben, mit lebendigen Strudelarmen nach mir zu greifen. Dabei sah ich mich irgendwie von außen, eine Art Glasfigur, ausbalanciert zwischen Treiben und Herabsinken. Die dahinrasenden Strömungen, die vielleicht nur eine einzige waren, bildeten einen Trichter, einen flüssigen Kern. In der Mitte war eine Stelle fast vollkommen glatt, ein scheinbarer Stillstand ohne Glanz, ohne Schaum. Im Traum hob mich das Wasser hoch, wirbelte mich dieser Stelle entgegen, als ob ein Gewicht mich nach unten gezogen hätte. Ich schloss fest den Mund, hielt den Atem an, bis mir endgültig die Luft ausging und ich mich leblos dem Strudel überließ, der mich in einer Spirale dorthin trug, wo sich das Smaragdgrün in Dunkelheit verwandelte, alles zur Ruhe kam und ich dann erwachte. Ich hatte also geschlafen. Wie lange? Lange vermutlich, aber gleich würde es
Tag werden. Ich hatte keine Uhr, aber durch die Holzritzen schienen winzige Pünktchen roten Lichts. Die Sonne ging auf. Eine Weile versuchte ich mich daran zu erinnern, was geschehen war, merkte aber bald, dass ich in der Erinnerung das Geschehene veränderte, ganz als legte ich Konturen und Farben über Vorgänge, die ich nicht wirklich erlebt hatte. Immerhin beschäftigte mich das Erinnern sehr, und dabei verhielt ich mich still wie ein Klotz, bevor ich mich endlich herumwälzte und mit dem Gesicht auf der Decke lag, die muffig roch. Im Aufruhr von Luftholen und Pulsschlag wartete ich darauf, dass es heller wurde. Nach einer Weile stemmte ich mich hoch und erschrak. Es war nicht so, wie ich gedacht hatte. In Wirklichkeit ging die Sonne nicht auf. Nein, sie ging unter! Die Lichtpünktchen wurden blasser, bevor sie endgültig erloschen. Das war ganz und gar falsch, ich hätte tagsüber nicht schlafen sollen. Die Nacht würde endlos sein. Was die Leute verrückt machen konnte, war der Mangel an Licht, und jetzt war es tintenschwarz. Ich hörte draußen, wie ein Käuzchen schrie, ein dumpfes, weiches Geräusch, das wie ein banges Fragen klang. Ich empfand eine tiefe Beklemmung dabei; es war, als liefe ich Gefahr, in den Abgrund dieser Dunkelheit hinabzustürzen, wie in meinem Traum. Mein ganzer Körper vom Kopf bis zu den Füßen roch schlecht und fühlte sich klamm an. Die Kenntnis der Dinge wurde mir jetzt nur durch die Finger zuteil, die über den Boden tasteten, zum Brot hin, zur Wasserflasche. Ich nahm einen Schluck, riss ein Stück Brot ab. Das Wasser war lauwarm, das trockene Brot schmeckte säuerlich. Da waren Funken, die vor meinen Augen in der Dunkelheit kreisten, phosphoreszierende Gebilde, die kamen und gingen. Halluzinationen?, hatte ich damals gedacht, schauen wir uns die mal an. Solange ich gefangen war, von der Welt abgeschnitten, mochte es gesünder sein, auf irgendeine Weise der Gegenwart zu entkommen. Viviane brachte solche Dinge ja auch fertig, hatte sogar ihren Spaß daran, warum nicht ich?
Im Geist floh ich durch Raum und Zeit, wie einer anderen Hemisphäre entgegen, überließ mich der Schwerkraft, der Bewegung einer Erde, die rückwärts schwebte statt vorwärts. Ich weiß noch, mir war, als ob es dann heller wurde, als ob es heller wurde, als ob ich Kinder hörte, die meinen Namen riefen. »Al-essa, Al-essa!« Ich weiß noch, wie ich ihre Stimmen zu hören glaubte, diese besondere Betonung, und entsinne mich an die Schauer, die mir dabei über den Rücken liefen. Der Klang hatte etwas Unbeschwertes und Verzücktes an sich, auf- und abschwellend wie Musik. Ich trieb meinen Geist dieser Musik, diesen Kindern entgegen, die ein Teil von mir waren. Wenn die Vergangenheit der einzige Ort war, an dem ich dem Wahnsinn entfliehen konnte, musste ich die Vergangenheit suchen und an die Kinder am Strand denken, die sich halb nackt und selig den Wellen überließen. Bald mischten
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