Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
Wahnsinnstat?
»Warum fühlst du dich schuldig?«, fragten mich meine Therapeuten und engsten Freunde immer wieder. »Du konntest doch nichts dafür.«
Nein? Konnte ich wirklich nichts dafür? Bin ich unschuldig, obwohl mein Körper im Spiel war?
Meine Eltern und Verwandten haben mir wieder und wieder zu verstehen gegeben, ich sei ein schlechtes Kind. »Du kannst nicht lieben!«, warf meine Mutter mir vor. »Du kannst nichts von dir hergeben, nicht teilen. Du bist ein Egoist!« – »Du bist schuld, dass ich dir nicht widerstehen kann!«, klagte mein Vater mich an. »Wenn du unser Geheimnis verrätst, sperrt man dich ein.« – »Du bist ein undankbares, verlogenes Ding!«, schimpfte Tante Inge. »Wer so hässliche Dinge über seinen Papa sagt, kommt in die Hölle.« – »Das tut nur der Mann im Busch«, sagte Oma Grete. »Wie kannst du dir nur so schmutzige Lügenmärchen ausdenken!«
Und plötzlich soll ich daran glauben, dass ich unschuldig bin? Die Menschen, die es mich glauben machen wollen, wissen ja nicht mehr von mir als das, was ich mir abgerungen habe, ihnen zu erzählen.
Können Sie ermessen, wie schwer mir dieses Umdenken und Umfühlen fällt? Ich bin 25 Jahre alt und beginne eben erst zu erkennen, dass ich ein Recht auf Leben habe, auf Freiheit und Unversehrtheit meiner Person, ein Recht auf ein Leben ohne Missbrauch.
»Was hättest du tun können?« Auch dies ist eine Frage, die mich spaltet. Wenn es um irgendein fremdes Schicksal und nicht um mein eigenes ginge, würde ich antworten: »Dieses Mädchen, dieser Junge war ein Kind. Ein Kind kann nichts tun. Es kann sich nicht wehren.« Doch da ich es bin, um die es geht, habe ich keine Antwort. Mein Bewusstsein, als Kind hilflos gewesen zu sein, steht noch auf ganz wackligen Füßen.
»Ich hätte vielleicht schreien können«, antwortete ich, als mir die Frage, was ich hätte tun können, erstmals von meinem Therapeuten gestellt wurde, und dachte an Georg, der mich so oft dazu aufgefordert hatte.
»Hast du es versucht?«
Ich wusste nicht, ob ich den Kopf schütteln oder nicken sollte. »Nicht so direkt. Ich hab’s zu erzählen versucht.«
»Hat es was gebracht?«
»Nein«, sagte ich. »Keiner hat es geglaubt. Nicht einmal meine Mutter.«
»Warum nicht?«
Solche Fragen rühren an Wunden. Ich wusste keine Antwort.
»Nimm deine Mutter in die Zange«, sagte mein Therapeut. »Frag sie, warum sie dir nicht geholfen hat. Stell sie zur Rede!«
19 Jahre musste ich werden, ehe ich, nachdem ich mir genug Mut angetrunken hatte, die entscheidende Frage an meine Mutter stellte – eine Frage, die mir seit meinem 16. Geburtstag das Zusammensein mit dieser Frau unerträglich gemacht hatte.
In dieser Zeit hatte ich angefangen, alles zu lesen, was mir über Inzest in die Hände fiel. Das Buch »Väter als Täter« von Kavemann und Lohstöter las ich zuerst. Dabei stieß ich auf eine Passage, in der beschrieben wird, wie ein Vater über seiner Tochter kniet und sein Wasser auf ihr ablässt. Dies zu lesen war damals eine ungeheure Erleichterung für mich. Zu erfahren, dass nicht nur ich von meinem Vater immer wieder angepinkelt wurde, war ungefähr so, als entdeckt man plötzlich, kein Marsmensch zu sein.
Ich kam irgendwie auf die Idee, die Textpassage rot anzustreichen und meiner Mutter vorzulegen. Vielleicht könnte ich sie damit aus der Reserve locken. Zunächst aber musste ich geschickt einen Gesprächsbeginn finden, der meine Mutter nicht gleich an die Decke gehen ließ.
Sie lag mal wieder mit einem ihrer Romanheftchen auf dem Sofa. Mein Vater war nicht zu Hause und würde auch nicht so rasch zurückkommen. Die Gelegenheit war günstig. Ich versuchte, so kühl und unaufgeregt zu wirken wie möglich.
»Du, was ich immer schon mal wissen wollte: Wie hast du das damals mit den Losen angestellt? Ich meine, weil du doch wolltest, dass ich zu Papa reinging, und dann auch der Zettel mit meinem Namen gezogen wurde.«
Meine Mutter legte alarmiert das Heft zur Seite. »Ganz einfach für jemand mit Grips.« Sie grinste. »Drei Zettel, ein Name.«
»Und wieso gerade meiner?«, fragte ich, das Buch hinter dem Rücken versteckt.
»Bist du seine Beste oder nicht?«, fragte meine Mutter zurück.
»Quatsch!«, antwortete ich heftig. »Du bist seine Beste.«
»Ach ja?« Meine Mutter funkelte mich wütend an. »Darum bringt er dir ständig was mit? Darum schenkt er dir dauernd Klamotten? Darum geht er mit dir in die Kneipe, ins Kino, zum Eisessen, überallhin –
Weitere Kostenlose Bücher