Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
Befehl »Wehr dich!« – und ich hörte seine Worte ständig, es gab für mich kein Verdrängen, kein Ausweichen mehr. Je intensiver ich um ihn litt, je heftiger mir meine innere Einsamkeit zusetzte, desto drängender und unerbittlicher wurde seine Aufforderung.
Doch natürlich wurde meine zerstörte Persönlichkeit durch Georgs Freitod oder durch den Schock, den ich durch ihn erlitt, nicht wie durch Wunderkraft geheilt. Wo sollte ich nach meiner lebenslangen Vergewaltigung die Kraft, den Mut, das Selbstbewusstsein hernehmen, mich mir nichts, dir nichts von meinem Vater und aus meiner subtilen Abhängigkeit von ihm zu befreien?
Dies war umso weniger möglich, als mein Vater durch nichts zu stoppen gewesen wäre. Was hätte ich tun sollen? Ihm wild entschlossen ein »Nein« entgegenschleudern – um dafür im Grab oder bestenfalls in einer Unfallklinik zu landen? Von zu Hause ausreißen und mit Polizeischutz zurückkehren – um nur abermals feststellen zu müssen, dass mein Vater am längeren Hebel saß, dass ich keine Möglichkeit der Gegenwehr hätte, wenn er mich als geisteskranke Verleumderin hinstellte?
Erst nach Jahren erfolgloser Abwehrkämpfe begriff ich, dass ich nur eine einzige Chance hatte, meinen Vater von mir fern zu halten: nämlich ihn hinter Gitter zu bringen. Doch viele, viele glückliche Zufälle waren nötig, bevor ich selbst so weit war, zu diesem schwersten aller Geschütze – und dem für mich einzig wirkungsvollen – zu greifen.
Vielleicht hätte ich meine Angst noch lange nicht überwunden, wäre ich noch lange in meiner Erstarrung verharrt, wenn am 14. März 1985 nicht jene Fernsehsendung im zdf gelaufen wäre. Ich war allein zu Hause, als ich den Titel »Die Zeit blieb stehen« in der Programmzeitschrift las und den Apparat einschaltete. Das Thema der Sendung des Magazins »Kontakte« war der plötzliche Tod von Kindern und wie man mit der Trauer umgehen könne.
Wie schmerzlich nahe Georg mir plötzlich wieder war! Zum ersten Mal seit seinem Tod erfuhr ich, dass Schmerz und Trauer um einen geliebten Menschen normal sind, dass nicht nur Irre – wie Tante Susanne – trauerten und dafür in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert werden mussten, sondern alle Menschen, die einen solchen Verlust erlitten.
War mein Leiden also kein Zeichen dafür, dass ich verrückt war? Und wenn ich nicht verrückt war: Würde man mir glauben, wenn ich sprach? Würde man mich nicht sofort hinter Gitter stecken, bis ans Ende meines Lebens? War diese Drohung nur eine weitere der Lügen, die mein Vater und nun auch Boris mir auftischten?
Schreib mir! Diese Worte standen – dreimal – auf dem einzigen aller Briefe Georgs an mich, die ich vor der Vernichtungswut meines Vaters gerettet hatte.
Wie unter Zwang begann ich zu schreiben. Die Worte füllten die Zeilen, Zeilen die Seiten. Ich dachte nicht darüber nach, warum ich es tat. Es musste sein. Da gab es kein Überlegen mehr und keine Angst.
Natürlich bedeutete dieser erste Brief an die Kontaktstelle Fernsehen in Mainz noch längst nicht das Ende aller Probleme. Ein langer Weg lag vor mir und noch eine lange Zeit schlimmsten, brutalsten Missbrauchs. Neben meinem Vater und meinem Bruder stampften fremde Männer über mich hinweg, beschmutzten und benutzten mich, als hätten sie nicht nur die Macht, sondern auch das Recht dazu. Ich begann, meinen Körper zu zerstören, indem ich ihm Wunden und Narben zufügte, die mich retten und schützen sollten, weil es keine andere Möglichkeit gab, mich zu verweigern.
Nein, ein Ende meiner Not bedeutete dieser erste Brief an die Kontaktstelle Fernsehen wahrhaftig nicht. Aber die daraus erwachsende Korrespondenz und der immer persönlicher werdende Kontakt zu einem Mitarbeiter dieser Kontaktstelle bedeuteten mir viel, ja alles. Sie waren für lange Zeit meine einzige echte Verbindung zur Außenwelt, waren der einzige Beweis dafür, dass man mich wahrnahm, dass es einen Menschen auf der Welt gab, der mich nicht als Sexobjekt betrachtete, sondern ernst nahm.
In der ersten Zeit schrieb ich kein Wort von Missbrauch. Das Geheimnis meines Vaters verschloss mir immer noch den Mund. Aber ich schrieb über Georg, meinen Schmerz, die Trauer und erfuhr, dass es normal ist zu trauern. Auf dieser Basis gelang es mir, immer öfter von meinem Alltag zu schreiben. Fast ohne es selbst zu merken, begann ich aus der totalen Gewalt meines Vaters auszubrechen. Ich trug Geschehnisse an die Außenwelt, die sich in unserer Familie
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