Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
hatte mir gezeigt, wie man den Schmutz abkratzt und dann Creme aufträgt. Ich hatte es ganz allein geschafft. Tante Inge hatte mir ein Bonbon dafür geschenkt. Ich hatte es nicht gegessen. Ich hatte es für mein Schwesterchen aufgespart. Das Papier knisterte, als ich das Bonbon in den Mund schob.
»Und ich?«, fragte meine Mutter. »Hast du auch eines für mich?«
Das Bonbon schmeckte plötzlich nicht mehr. Dick und klebrig lag es in meinem Mund. Es erinnerte mich an etwas; ich wollte nicht wissen, an was. Mir wurde schlecht.
»Bring sie weg!«, sagte meine Mutter zu meinem Vater, während ich über dem Waschbecken mit dem Bonbon kämpfte. »Mit der blamiert man sich ja noch im Grab!«
Ich habe danach nie wieder ein Bonbon gelutscht – bis heute nicht.
Wenig später zogen wir zu viert in unser neues Kinderzimmer ein. Meine Eltern konnten gar nicht oft genug betonen, wie dankbar wir sein müssten, es so schön zu haben.
Aber ich fand dieses Zimmer von Anfang an scheußlich. Wir hatten die Tapete übernommen, die der Vorgänger schon jahrelang an den Wänden kleben gehabt hatte. Sie war dunkel und fleckig. Aber für uns war sie gut genug.
»Ihr schmiert sowieso bloß alles ein«, sagte meine Mutter. Und mein Vater versprach: »Wenn ihr größer seid, machen wir alles neu.«
Anscheinend wurden wir nie größer.
Da das Zimmer für vier Einzelbetten zu klein war, erhielten wir ein aufklappbares Doppelbett, unter dem man ein drittes Bett hervorziehen konnte. Dieses untere Bett war offiziell meines. Aber daran hielten wir uns nicht. Die beiden von uns, die sich tagsüber besonders gut verstanden hatten, bezogen das Doppelbett, und der lachende Dritte bekam das einzelne.
Solange Georg noch ein Baby war, schlief er in einem Gitterbett. Später stellte mein Vater eine alte Couch in unser Zimmer, sodass wir vier Schlafplätze bekamen. Meist belegte Stefan die Couch mit Beschlag.
Tante Inge hatte uns Kindern zum Einzug eine Kiste mit Spielsachen geschenkt, die sie bei ihren eigenen Söhnen aussortiert hatte. Da wir selten Spielzeug erhielten, machten wir uns voller Begeisterung über die Playmobil- und Lego-Teile her.
Unseren neuen Bruder beachteten wir kaum. Bei unseren Spielen störte er noch nicht. Selbst sein nächtliches Schreien fiel uns nicht auf. In unserer Wohnung ging es nachts ja sowieso nie besonders leise zu.
Georgs Taufe war kein rauschendes Familienfest wie meine eigene. Er war ja nur ein Junge unter vielen und unerwünscht obendrein. Onkel Oskar, der Mann der jüngsten Schwester meiner Mutter, wurde Taufpate. Damals hätten Tante Susanne und Onkel Oskar schon gern selbst ein Kind gehabt, aber leider klappte es damit nicht nach Wunsch. Georg war für sie irgendwie immer ein bisschen wie ein Ersatz. Sie hatten ihn sehr gern.
Viel eifersüchtiger als die beiden machte mich allerdings meine Lieblingstante Inge. Wenn sie das Baby auf den Arm nahm und womöglich auch noch an sich drückte, schlug mir das Feuer aus den Augen heraus. Ich wollte die Nummer eins für sie sein – und dieses überflüssige Kind, das nicht einmal ein Mädchen geworden war, drohte mir meinen Platz streitig zu machen.
Offensichtlich bemerkte meine Tante, wie sehr ihr Verhalten mir zu schaffen machte. Sie fing jedenfalls an, mich an das Baby heranzuführen. Durch sie nahm ich es überhaupt erst bewusst wahr.
»Guck mal, Moni, was für niedliche Füßchen«, sagte sie. Oder: »So winzige Fingerchen hattest du auch mal.« Dabei schob sie meinen Zeigefinger in Georgs Hand, damit ich spüren konnte, wie er mich festhielt. »Er hat dich schon richtig lieb«, sagte sie. »Er freut sich, wenn du da bist.«
So schlich sich dieser Bruder allmählich in mein Herz. Es war nicht mehr wichtig, dass er kein Mädchen war. Seine Augen sahen mich an. Seine Fingerchen spielten mit meiner Hand und meinem Haar. Er hörte auf zu weinen, wenn ich mich über ihn beugte. Mich lächelte er mit seinem ersten Lächeln an. Dieser Bruder war mein Bruder. Ich spürte es ganz genau. Die Eifersucht verflog wie von selbst.
Weh tat eigentlich nur eines, wenn ich an Georg dachte: dass ihn der Klapperstorch gebracht hatte – mich jedoch nicht. Mein Vater hatte es mir erzählt. Wenn er es sagte, musste es stimmen.
»So ein Trampeltier wie dich kann doch kein Storch gebracht haben«, sagte er. »Dich hat der Esel im Galopp verloren. Da habe ich dich gefunden und mitgenommen. Dich wollte ja sonst keiner haben.«
»Aber du wolltest mich doch haben, Papa, ja?«,
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