Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
täglich oder auch mehrmals täglich auf unterschiedlichen Wegen in mich selber ab. In nicht enden wollenden Gesprächen mit mir selbst bin ich meiner Vergangenheit auf der Spur. Immer wieder hake ich nach, um aus den Bruchstücken meiner Erinnerung ganze Szenen zusammenzupuzzeln, sie nochmals zu durchleben und dann quasi zu den Akten zu legen.
Es ist so wichtig für mich, meine Vergangenheit neu aufzurollen. Alles, was ich durchlebt und erfahren habe, steht ja unter dem Vorzeichen: »Ich bin selbst schuld an allem, was geschehen ist.« Vom ersten Augenblick an hat man mir diese Schuld eingetrichtert, eingebläut.
Um zu begreifen, dass meine Schuldgefühle nicht berechtigt sind, muss ich mich quasi einer Gehirn- und Seelenwäsche unterziehen. Alles muss ans Licht gezerrt und aus einem anderen Blickwinkel neu erfasst werden.
Vom Kopf her weiß ich längst, dass meine Eltern kein Recht hatten, mir, einem Kind, die Verantwortung und Schuld für ihr eigenes Fehlverhalten aufzubürden. Theoretisch ist mir völlig klar, dass ein Kind seinen Eltern ausgeliefert ist und also nicht verantwortlich dafür sein kann, was diese ihm antun.
Aber meine Gefühle hinken meinem Kopfwissen meilenweit hinterher. In meinem Kopf bin ich vielleicht erwachsen, in meinen Gefühlen ganz sicher noch ein Kind.
Mich zu erinnern ist meine einzige Chance, meine Vergangenheit zu bewältigen und meine Gefühle zu entwickeln.
Doch Erinnerung ist Qual. Ich habe alles Gewesene hinter starke Mauern verbannt. Hinter Mauern, die sich aus den Verboten meines Vaters und meiner eigenen Angst und Scham gebildet haben. Mich zu erinnern und dieses Erinnern zuzulassen bedeutet, diese Mauern zu durchbrechen. Das Kind in mir stirbt tausend Tode in Erwartung der unaussprechlich schrecklichen Strafe, die kommen muss, wenn ich die Verbote des Vaters missachte und meine eigene Angst überwinde.
Trotz meiner Ängste erinnere ich mich.
Ich erinnere mich, dass ich nicht aufwachen wollte am Morgen nach jener österlichen Nacht in der Eifel. Ich redete mir ein, ich hätte geschlafen, immer nur geschlafen, die ganze Nacht. Ich wollte geträumt haben, nur geträumt. Nichts sollte wahr sein von dem, was geschehen war. Ich musste geträumt haben. Ich hatte doch geträumt – oder nicht?
Ich erinnere mich, wie mein Vater an mein Bett kam und sich über mich beugte. Mein Magen zog sich zusammen. Ich presste die Augen zu und dachte: »Ich schlafe, ich schlafe, ich schlafe!«
Nichts geschah. Mein Vater berührte mich nicht. Furchtsam blinzelte ich zu ihm auf. Er starrte mich an. Durch den Schleier meiner Wimpern traf mich sein Blick.
»Wehe, du sagst es Mami!«, zischte er. »Es ist unser Geheimnis. Wenn du es Mami sagst, glaubt sie dir sowieso nicht. Sie bringt dich weg, wenn du es sagst. Dann finde ich dich nie wieder.«
Ich antwortete nicht. Ich hatte doch alles nur geträumt – oder nicht?
Von nebenan klapperte Geschirr. Die anderen frühstückten. Sie riefen mich nicht. Meine Brüder zankten und lachten. Sie vermissten mich nicht.
Mein Vater ging lautlos aus dem Zimmer. Doch noch immer wagte ich mich nicht zu rühren.
Ich erinnere mich, wie meine Mutter Stunden später ins Kinderzimmer trat, um Georg zum Mittagsschlaf niederzulegen. Sie hatte mich schon so lange nicht mehr in den Arm genommen, dass ich vergessen hatte, wie es war. Als sie mein Kopfkissen aufschüttelte, streifte sie meine Schulter. Es war wie ein Schlag, obwohl es nur eine ganz leichte Berührung war.
»Mami!«, sagte ich und wünschte mir verzweifelt, sie würde mich einmal, nur dieses eine Mal ein wenig lieb haben.
Meine Mutter schüttelte das Kissen so heftig, als wolle sie es zerreißen. »Steh schon auf!«, sagte sie. »Vom Schlafen wird nichts besser.«
Ihre Stimme ermunterte mich nicht. Sie klang zornig und hart. Trotzdem brach es aus mir heraus: »Mami! Der Papa hat mich angefasst!«
Einen Augenblick sah es aus, als wolle meine Mutter weinen. Dann schlug sie zu.
Georg schrie auf, als ich über ihn fiel. Ich blieb stumm. Meine Mutter blieb stumm. Sie starrte mich an aus diesen funkelnden Augen und sagte kein Wort.
Ich hielt ihren Blick nicht aus. Ich wollte, dass sie mich in die Arme nahm. Oder dass sie mich schlug. Ich wollte, dass sie irgendetwas täte – wenn sie nur endlich aufhörte, mich so anzustarren!
Da endlich wandte sie sich ab. »Warum sollte dein Vater dich nicht anfassen?«, fragte sie.
Aber es war keine Frage. Es hieß für mich: »Dein Vater darf dich anfassen.
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