Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
und die Sicherheit eines Ortes, dessen Abgeschiedenheit auf mich wirkt wie das Netz unter meinem Drahtseil. Ich spreche von der geschlossenen Abteilung einer Klinik für seelisch Kranke.
Hinter den Türen solch einer Klinik würde mich meine Familie unter Beihilfe ihres Anwaltes am liebsten für immer verschwinden lassen. Allen voran natürlich mein Vater. Wie sagte er doch immer zu mir? »Wenn du etwas verrätst – ich garantiere dir, keiner wird dir glauben! Sie werden sagen, du bist verrückt. Ich sorge schon dafür, verlass dich darauf! Ich sitze am längeren Hebel.«
Noch im Prozess versuchte er es auf diese Tour. In den Gerichtsakten steht es zu lesen, was er sagte: »Ich hoffe, dass Monika krank ist, sehr krank. Ihre Anschuldigungen sind völlig aus der Luft gegriffen, Hirngespinste. Kein Wort ist wahr!«
Zum Glück sah das Gericht es anders. Es erkannte ihn für schuldig, nicht mich. Mir glaubte man, nicht ihm. Doch von seiner Idee, mich zahlen zu lassen für seine Schuld, ließ er auch hinter Gittern nicht ab. »Ich habe hundert Prozent Erfolg in Revisionssachen«, versprach ihm sein Anwalt, der zugleich ein langjähriger Freund des Hauses ist. »Ich hole dich hier raus. Deine Tochter ist verrückt. Das liegt in der Familie deiner Frau, das ist erblich. Schließlich hat sie eine Schwester, die seit Jahren von einem Irrenhausaufenthalt in den nächsten fällt. Daran gibt’s keinen Zweifel. Das werden wir beweisen. Verlass dich ganz auf mich.«
Erbliche Geisteskrankheit? Niemand weiß besser als meine Mutter, was mit ihrer Schwester Susanne los ist, warum sie in psychiatrischer Behandlung ist und warum sie vor Gericht so gellend zu schreien begann, dass ich nie mehr werde vergessen können, wie es über den langen, langen Warteflur hallte.
Tante Susanne, diese mir so vertraute Tante, die von meiner Mutter immer so glühend um ihren Beruf als Lehrerin beneidet wurde, ist krank, weil ihr Vater ihr antat, was er meiner Mutter antat. Sie ist krank, weil sie nie die Kraft hatte, das Geheimnis ihres Vaters abzuschütteln. Sie ist krank, weil sie es nicht schaffte zu sagen: »Mein Vater hat mich missbraucht.«
Heute, als erwachsene Frau, weiß ich, wann ich träume – auch wenn ich die Traumbilder oft nur mit fremder Hilfe bewältigen kann. Anders als dem Kind, das ich einmal war, gelingt es mir, Tatsachen auch dann ins Gesicht zu sehen, wenn diese mich innerlich zu zerreißen drohen.
Eine solche Tatsache war fast zwei Jahrzehnte lang als Traum in mir verkapselt. Sie war für mich so unglaublich und so bestürzend, dass ich sie einfach nicht wahrhaben wollte.
Für die Entdeckung, die ich gemacht hatte, hatte mir Georg den Anstoß gegeben. Wie so oft hatte er nicht lockergelassen, wollte er alles genau ergründen. »Glaubst du das?«, fragte er mich eines Tages flüsternd, damit unsere Brüder nichts hörten. »Glaubst du, dass Mama Rückenschmerzen hat?«
»Hm«, machte ich.
Aber Georg gab keine Ruhe. »Und warum klatscht es dann immer so? Und warum schreit Papa dann auch? Er hat doch keine Rückenschmerzen, oder?«
Ich weiß nicht mehr, was ich darauf antwortete. Aber ich erinnere mich daran, was ich in einer der nächsten Nächte tat. Meine Brüder schliefen. Das Licht der Bogenlaterne vor dem Haus fiel hell in unser Kinderzimmer. Alles in mir vibrierte von dem Gestöhne und den klatschenden Geräuschen, die aus allen Richtungen auf mich einzudringen schienen.
Ohne irgendeinem bestimmten Plan zu folgen, schob ich mich von Georgs Seite weg und stand auf. Einen Augenblick wartete ich und lauschte, ob Georg aufgewacht wäre. Aber er schlief ruhig weiter, den Daumen im Mund, einen Bettzipfel unter die Wange geschoben. Auf Zehenspitzen huschte ich aus dem Zimmer, quer über den dunklen Flur und zur Tür des Elternschlafzimmers. Leise drückte ich die Tür gerade so weit auf, dass ich in das Zimmer blicken konnte.
Meine Eltern bemerkten mich nicht. Doch hätten sie mich entdeckt und wären beide voller Zorn über mich hergefallen – ich hätte nicht wegrennen können. Ihr Anblick war so fremdartig und zugleich so Furcht erregend für mich, dass ich vor Schreck keinen Fuß rühren konnte.
Meine Mutter kniete vor meinem Vater auf dem Boden. Sie trug einen schwarzen, glänzenden Anzug, aus dem ihre nackten Brüste heraushingen. Mein Vater stand breitbeinig über ihr und schlug sie mit einer Peitsche, die in vielen dünnen Schnüren endete. Meine Mutter schrie und stöhnte vor Schmerz. Mein Vater stöhnte
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