Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
sobald er es kippte. »Mama!«
Ich weiß nicht mehr, wie ich reagierte. Nur an die Träume erinnere ich mich. Nächtelang träumte ich von grässlich zerstörten Puppengesichtern mit heraushängenden Augen und wachte schreiend auf, weil ich meine Puppe nach mir jammern gehört hatte.
Und nächtelang legte mein Vater tröstend den Arm um mich und seine Hand unter mein Hemd.
Sein Trost gefiel mir nicht. Aber er war der einzige, den ich bekam.
VIII
Eines Morgens, als ich erwachte – ich muss fast sechs Jahre alt gewesen sein –, stand Georgs Gitterbettchen plötzlich wieder in der gewohnten Ecke des Kinderzimmers. Die Reaktionen von uns Kindern waren recht unterschiedlich.
»Der hat mir gerade noch gefehlt!«, rief Stefan, als er begriff, dass sein kleinster Bruder von nun an wieder bei uns zu Hause wohnen würde. Als Ältester hatte er uns zu beaufsichtigen, wenn unsere Eltern außer Haus oder mit Angelegenheiten beschäftigt waren, bei denen wir nicht stören durften – und beides war nur zu oft der Fall. Für einen neunjährigen Jungen war dies sicherlich keine leichte Aufgabe. Kein Wunder, dass er über die Rückkehr des Kleinsten wenig beglückt war.
Boris, der damals selbst erst drei Jahre alt war, schien keine Meinung zu Georgs Wiederkehr zu haben. Wahrscheinlich begriff er gar nicht, dass dieses friedlich lächelnde, am Daumen nuckelnde Baby zu uns gehörte und für immer bleiben würde.
Ich selbst indes war so glücklich wie selten zuvor in meinem Leben. Doch ich behielt meine Freude für mich. Ich hatte meine Lektion brav gelernt: Bewahre deine Gefühle für dich; wenn du sie zeigst, bist du schwach und angreifbar! Missbrauchte Kinder reifen schnell.
Erst Jahre später erfuhr ich, warum Tante Inge Georg nicht mehr als Pflegekind hatte behalten wollen. »Er gewöhnte sich zu sehr an uns und wir uns zu sehr an ihn«, erzählte sie mir. »Wir wussten, dass eine Trennung immer schwieriger geworden wäre – für ihn und für uns.«
Meine Tante hatte meine Eltern vor die Wahl gestellt: »Entweder wir behalten den Kleinen für immer. Dann aber mit allen Konsequenzen: Adoption und so weiter. Oder ihr holt ihn jetzt endgültig nach Hause zu euch. So wie bisher geht es jedenfalls nicht weiter. Ein Kind muss wissen, wohin es gehört.«
Meine Mutter, so erzählte Tante Inge, hatte wütend geantwortet: »Adoptieren? Ja, das könnte euch so passen! Mir die Arbeit und den dicken Bauch, euch das Vergnügen. So weit kommt es noch! Schmink dir das ab! Meine Kinder gehören mir, sonst keinem. Wenn du eines willst, müsst ihr es euch schon selber machen!«
Mein Vater hatte daraufhin zwar ein bisschen mit meiner Mutter geschimpft, da sie Inge gegenüber undankbar und unhöflich sei; schließlich habe seine Schwester es nur gut gemeint. Aber seinen jüngsten Sohn hergeben, das wollte auch er nicht. »Kinder sind ein Geschenk des Himmels«, sagte er. »Wir werden keines davon zurückweisen.«
Ich wünschte, er hätte es getan. Denn dann hätte er dich nicht in den Tod getrieben, Georg!
Von nun an waren wir also zu viert im Kinderzimmer. Es wurde immer enger, zumal Georgs Kinderbett bald durch eine Couch ersetzt wurde, die mein Vater irgendwo aufgegabelt hatte. »Nur für den Übergang«, versprach er – und zog dann die Übergangsphase bis kurz vor Georgs Tod hin.
In diesem Zimmer standen nun also ein ausklappbares Doppelbett, ein Ausziehbett und eine Couch. Zwei von uns mussten sich grundsätzlich einen Schlafplatz teilen.
»Na und?«, sagte meine Mutter. »Papa und ich schlafen doch auch in einem Bett.«
Das leuchtete uns ein.
Die Enge des Kinderzimmers ließ keinem von uns auch nur den geringsten Freiraum. Manchmal aber empfanden wir sie auch als Schutz – wie eine sichere Höhle. Dann zum Beispiel, wenn es uns strengstens verboten worden war, das Zimmer zu verlassen. Danach begann im Schlafzimmer meiner Eltern dann immer das Stöhnen und Schreien.
Es gab keine bestimmte Zeit dafür. Es konnte am Tage passieren, abends, in der Nacht. Manchmal hörten wir es schon im Hausflur, wenn wir von einem Besuch bei Oma Grete oder Tante Inge heimkehrten.
Das Gefühl, das mich dann überkam, kann ich gar nicht beschreiben. Entsetzen, Grauen, Qual – die Worte sind viel zu schwach. Am liebsten wäre ich weggerannt, weit fort, egal wohin; Hauptsache, ich müsste diese Schreie nicht mehr hören.
Wenn uns die klatschenden Schläge nachts aus dem Schlaf schreckten, drängten wir drei Kleinen uns in einem unserer Betten
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