Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
eklig.«
Einer in den Arm des anderen gekuschelt, schliefen wir endlich ein.
Stefan brachte mich eines Tages auf die Idee, dass die Behauptung, Mädchen dürften grundsätzlich nicht in den Kindergarten, wohl nicht so ganz stimmte. »Die wollen bloß nicht, dass du hingehst«, sagte er. »Einer in meiner Klasse hat eine Schwester, die ist auch im Kindergarten – in Boris’ Gruppe sogar.«
»Aber warum darf ich dann nicht hin?«, fragte ich ihn.
»Keine Ahnung«, erwiderte mein Bruder. »Aber mach dir nichts draus. Du kommst ja bald in die Schule, und da ist es sowieso viel besser.«
»Und wenn sie sagen, Mädchen dürfen auch nicht in die Schule?«, fragte ich.
»Dann kommt die Polizei und holt dich«, antwortete Stefan.
»Muss Moni dann in den Knast?«, schaltete sich Boris, der im Kindergarten einige neue Lieblingsausdrücke gelernt hatte, in die Debatte ein.
Stefan schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Bisschen plemplem, was? Doch nicht in den Knast – in die Schule! Alle müssen in die Schule!«
»Ich auch?«, fragte Georg.
»Klar«, sagte Stefan. »Alle.«
Klammheimlich begann ich mich auf die Schule zu freuen. Es war doof, ein Mädchen zu sein. Mädchen mussten eine Frau und eine Mama werden und Rückenschmerzen aushalten und alles tun, was der Mann will. Aber wenn ich in die Schule gehen konnte, war es vielleicht nicht mehr ganz so schlimm, ein Mädchen zu sein. In der Schule gab es noch andere Mädchen. Stefan hatte es gesagt, und er musste es ja wissen. Boris hatte einen Freund im Kindergarten, der war genauso alt und genauso groß wie er. Vielleicht würde auch ich in der Schule eine Freundin finden? In jedem Fall aber würde ich alles lernen, was Stefan gelernt hatte.
Stefan konnte schon gut lesen. Sogar Mama lobte ihn oft deswegen. »Nehmt euch ein Beispiel an seinen Leistungen!«, sagte sie. »Unser Stefan, der wird’s mal zu etwas bringen. Der wird mal nicht in so einem Rattenloch verkommen wie wir. Der hat Köpfchen!«
Ich wollte auch lesen lernen. Vielleicht lobte Mama mich dann auch? Vor allem aber brauchte ich dann keinen zum Vorlesen.
Manchmal las Stefan uns nämlich Geschichten vor. Wir drei Kleinen waren dann mucksmäuschenstill und hörten ganz andächtig zu. Warm eingekuschelt lagen wir im Bett und genossen es, wie Stefans Stimme Hexen und Zauberer, Zwerge und wundersame Tiere in unser Zimmer spazieren ließ.
Aber in letzter Zeit las Stefan uns meistens Gespenster- und Monstergeschichten aus Comicheften vor, in denen es von Fratzen, abgeschlagenen Köpfen und Ungeheuern nur so wimmelte. Während des Lesens zeigte er uns die Bilder. Vor allem die Gespenster waren grässlich! Sah mein Opa jetzt so aus? Tote würden Gespenster, hatte Stefan gesagt. War mein Opa ein Gespenst?
Ich hielt mir die Augen zu, um die Bilder nicht ansehen zu müssen. »Wer ein Gespenst erkennt, den holt es«, hatte Stefan gesagt. »Es glotzt durch alle Mauern. Wen es anstarrt, der stirbt.« Ich wollte Opa nicht erkennen. Er sollte mich nicht anstarren. Ich wollte nicht sterben.
Stefan zerrte gewaltsam meine Hände von den Augen. Er war stark, viel stärker als ich. »Guck dir die Bilder an!«, befahl er.
Etwas in seiner Stimme bewirkte, dass ich gehorchen musste. Hatte es nicht wie bei Papa geklungen, wenn er »Nimm ihn! Nimm ihn!« sagte?
»Na also!«, sagte Stefan und drückte mich mit der Nase auf das Papier. »Warum nicht gleich so?«
»Hör auf!«, hörte ich Georg schreien. »Lass sie los! Du bist gemein!«
Stefan lachte, als die kleinen Fäuste auf seinen Rücken trommelten, dann erst ließ er meinen Nacken los.
Die Gespenster aus den Comics verfolgten mich bis in meine Träume. Wie gut, Georgs warmen Körper neben mir zu spüren und seinen Atem zu hören!
Der Gedanke, selber lesen zu lernen, ließ mich nicht mehr los. Ich zählte die Wochen bis zum Ende der Sommerferien auf dem großen Küchenkalender ab. Stefan hatte mir den Tag rot eingekringelt, an dem die Erstklässler eingeschult würden. Und er hatte mir den Tag gezeigt, für den Mama mit mir zur Schulärztlichen Untersuchung vorgeladen worden war. Stefan hatte das Datum in einem Brief gelesen, der irgendwann eingetroffen war. Jeden Morgen, gleich nach dem Aufstehen stand ich in der Küche und strich einen weiteren Tag auf dem Kalenderblatt ab. Viel zu langsam wurden die Zahlenkästchen, die ich noch durchzustreichen hatte, weniger.
Endlich war es so weit. Meine Mutter kämmte mich noch einmal, bevor wir in das
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