Montgomery & Stapleton 04 - Der Experte
Jack. Er leistete gute Arbeit, doch ein paar Jahre zuvor wäre er um ein Haar gefeuert worden; durch die Weitergabe interner Informationen hatte er das Institut in eine äußerst peinliche Lage und Jack und Laurie in Gefahr gebracht. Daß man Vinnie dann doch nicht entlassen, sondern nur getadelt und ihm eine Bewährungsfrist zugebilligt hatte, war auf die mildernden Umstände zurückzuführen gewesen, die ihm zugestanden worden waren. Die Ermittlungen hatten ergeben, daß er von fragwürdigen Unterwelttypen erpreßt worden war. Sein Vater hatte in lockerer Verbindung zur Mafia gestanden.
Jack begrüßte Dr. George Fontworth, einen korpulenten Kollegen, der ebenfalls Gerichtsmediziner war und im Vergleich zu ihm sieben Dienstjahre mehr auf dem Buckel hatte. Im Zuge des Rotationsprinzips trat George gerade seinen einwöchigen Dienst als Verantwortlicher für die Prüfung der über Nacht eingelieferten Todesfälle an; er hatte zu entscheiden, welcher Fall von wem obduziert werden sollte. Aus diesem Grund war er schon so früh im Institut. Normalerweise kam er immer als letzter.
»Was für eine nette Begrüßung«, murmelte Jack vor sich hin, als George ihn ebenso ignorierte wie Vinnie. Er füllte seinen Becher mit Kaffee, den Vinnie bereits gekocht hatte. Vinnie kam jeden Morgen etwas früher als die anderen Sektionsgehilfen, damit er dem diensthabenden Gerichtsmediziner gegebenenfalls assistieren konnte. Zu seinen Aufgaben gehörte aber auch, die Gemeinschaftskaffeemaschine in Gang zu setzen und den Muntermacher aufzubrühen.
Den Becher Kaffee in der Hand, ging Jack hinüber zu George und warf einen Blick über dessen Schulter.
»Würde es dir etwas ausmachen, mich in Ruhe arbeiten zu lassen?« fuhr George ihn pikiert an und verdeckte die vor ihm liegenden Papiere. Es machte ihn rasend, wenn ihm jemand über die Schulter sah und seine Arbeit inspizierte.
Die beiden waren nie gut miteinander zurechtgekommen. Jack verachtete Mittelmäßigkeit und weigerte sich prinzipiell, sich zu verstellen. George mochte vielleicht hervorragende Referenzen aufzuweisen haben – er war, was den Bereich der gerichtsmedizinischen Pathologie anging, von einer wahren Koryphäe ausgebildet worden –, aber für Jacks Geschmack legte er sich bei der Arbeit nur halbherzig ins Zeug. Er hatte keinerlei Respekt vor dem Mann.
Jack grinste. Die Reaktion seines Kollegen belustigte ihn. Er empfand ein perverses Vergnügen daran, George auf die Palme zu bringen. »Ist was Interessantes dabei?« fragte er und ging um George herum zur Vorderseite des Schreibtischs; dort begann er, mit dem Zeigefinger die aufgestapelten Akten durchzublättern und versuchte, jeweils die mutmaßliche Diagnose zu entziffern.
»Die Akten sind sortiert!« fuhr George ihn an. Er schob Jacks Hand beiseite und begradigte die ordentlich aufgeschichteten Stapel, die er immer akkurat nach Todesursache und Art und Weise des Exitus sortierte.
»Was hast du denn heute für mich?« fragte Jack. Was er an seiner Arbeit als Gerichtsmediziner am meisten mochte, war, daß er nie im voraus wußte, was der neue Tag ihm bescheren würde. Jeden Tag kam er mit etwas Neuem in Berührung. Als Augenarzt war ihm das nicht so ergangen. Damals hatte er drei Monate im voraus gewußt, wie jeder einzelne Tag aussehen würde.
»Ich habe einen Infektionstoten«, gab George widerwillig Auskunft. »Allerdings glaube ich nicht, daß der Fall besonders interessant ist. Wenn du willst, kannst du ihn haben.«
»Warum ist er denn bei uns gelandet?« fragte Jack. »Gibt es keine Diagnose?«
»Nur eine Vermutung«, erwiderte der Kollege. »Es besteht Verdacht auf Influenza mit sekundärer Lungenentzündung. Aber der Patient ist gestorben, bevor irgendein Ergebnis der Gewebekultur-Untersuchungen zurückgekommen war. Komplizierend kommt dazu, daß bei der Gram-Färbung nichts zu sehen war. Und dann war auch noch der Hausarzt des Mannes übers Wochenende verreist.«
Jack nahm die Akte. Der Name des Toten lautete Jason Papparis. Er zog den Informationsbogen heraus, den Janice Jaeger ausgefüllt hatte, die gerichtsmedizinische Ermittlerin der Nachtschicht, auch Pathologie-Assistentin, kurz PA, genannt. Er überflog den Bogen und nickte anerkennend. Janice hatte wieder einmal gründliche Arbeit geleistet. Seitdem Jack ihr einmal nahegelegt hatte, bei Infektionsfällen grundsätzlich nach Reisegewohnheiten und eventuellen Kontakten mit Tieren zu fragen, hatte sie dies nicht ein einziges Mal
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