Moorehawke 02 - Geisterpfade
die letzten Schritte. Embla trat soeben aus einem der Zelte, und sofort packte Ashkr seine Schwester an den Schultern und befragte sie sorgenvoll. Sie legte ihm die Hand auf die Brust, und ihre Antwort rang Ashkr einen Aufschrei ab. Rasch schob er sich an ihr vorbei ins Zelt. Embla sah ihm einen Moment lang nach, dann drehte sie sich zu Razi, Wynter und Christopher um, die langsam auf sie zuritten. In ihrem schönen Gesicht lag kein freundlicher Gruß, nur Besorgnis und Kummer. Sie war den Tränen nahe.
Wynter blickte sich um, während sie das Lager durchquerten. Es bestand aus acht oder neun der berühmten kegelförmigen Merronerzelte, die meisten davon von innen beleuchtet und mit einem kleinen Kochfeuer vor dem Eingang. Während sie in die Abendröte blinzelte, entdeckte Wynter etwas abseits mindestens zwanzig Pferde, deren Vorder- und Hinterhuf jeweils auf einer Seite mit einem Seil zusammengebunden waren und die frei auf einem zum Fluss hin abfallenden Stück Wiese grasten. Hinter den Zelten flatterten einige Wäscheleinen im Wind, und überall verstreut lagen
hohe Stapel Feuerholz. Das war kein hastig errichtetes Krankenlager – dies hier war ein sorgfältig ausgewählter, auf längerfristigen Aufenthalt ausgerichteter Lagerplatz. Vielleicht eine Basis, von der aus die Merroner vorzugehen gedachten.
Allmählich beschlich Wynter der Verdacht, dass die Männer und Frauen, die oberhalb der Wherry Tavern im Wald gewartet hatten, eine Vorhut gewesen waren, die alles für die Ankunft ihrer hohen Herren und Damen vorbereitet hatte. Sie bemerkte, dass Razi ebenfalls ihre Umgebung in Augenschein nahm und zweifellos zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte. Christopher saß mit hängenden Schultern im Sattel und lenkte sein Pferd mit einer Hand durch die misstrauische Menschenmenge. Er hatte nur Augen für Embla und schien in ihrer Miene zu lesen, ihre Absichten einzuschätzen.
Nun wandte sich Embla nach einem flüchtigen Blick auf Wynter und Christopher an Razi. Er brachte sein Pferd zwar zum Stehen, blieb jedoch eisig und abwartend im Sattel sitzen.
»Sól wird nicht wollen, dass Ihr ihn behandelt«, sagte sie leise. »Gleich, was Ash sagt.«
Ohne etwas zu entgegnen, musterte Razi sie, stieß dann ein etwas unwilliges Grunzen aus und glitt vom Pferd. Wynter sah ihn kurz taumeln, und zum ersten Mal dachte sie darüber nach, wie erschöpft er sein musste. »Wyn…«, begann er, verbesserte sich aber schnell mit einem Räuspern. »Iseult.« Er streckte ihr die Arme entgegen. »Komm bitte mit.« Er fasste Wynter um die Taille, und Embla runzelte besorgt die Stirn, als sie das Zucken sah, das Wynter nicht verbergen konnte. Ihre dunkelblauen Augen schnellten von Wynter zu Christopher und zurück, und sie wirkte aufrichtig erschrocken, sie beide in so schlechtem Zustand zu sehen.
Razi sah Wynter in die Augen. »Bist du bereit?«, flüsterte er.
Sie nickte und biss sich auf die Lippen, und Razi hob sie mit aller Kraft aus dem Sattel. Der Schmerz schlug Funken; alles um sie herum drohte zu verschwimmen. Doch beinahe sofort kehrte ihr volles Bewusstsein zurück, und sie konnte sich aus seinem Griff lösen und auf eigenen Füßen stehen, ehe ihre Schwäche allzu offensichtlich wurde. Fragend drehte sich Razi zu Christopher um, und der zögerte kurz, biss dann die Zähne zusammen und stieg ohne Hilfe vom Pferd. Diskret legte Razi ihm eine Hand auf den Rücken, um ihn zu stützen, und wandte sich dann Embla zu.
»Lasst mich eintreten«, sagte er. »Ich wünsche mit eigenen Ohren zu hören, was Sólmundr zu sagen hat.«
Embla deutete auf Christopher und Wynter. »Sie müssen draußen bleiben.«
Mit kalter Miene gab Razi zurück: »Das glaube ich nicht.« Dann machte er einen Bogen um sie und trat ins Zelt. Wynter und Christopher folgten ihm und drückten sich an Embla vorbei ins flackernde Fackellicht, ohne sie anzusehen.
Innen war es heiß und stickig. Es roch nach Schweiß und Erbrochenem, und trotz seiner Geräumigkeit schien das Zelt überfüllt. Sólmundr lag zusammengekrümmt auf einem Lager aus Fellen. Sein Oberkörper war nackt, die Decke hatte er bis auf die Hüfte hinabgeschoben, und Wynter war erschüttert über die Vielzahl der alten Peitschenstriemen und Narben, die seinen drahtigen Körper überzogen. Neben ihm kauerte Ashkr und hielt seine Hand umklammert. Böse blickte er zu Úlfnaor auf, der sich leise auf Merronisch mit ihm stritt. Hinter dem Krankenlager hockte eine sehnige, dunkeläugige Frau von
Weitere Kostenlose Bücher