Mord auf der Leviathan
Mich fröstelte, darum trug ich den Schal. Ist das ein Verbrechen?«
Ich sah zu meiner Freude den freiwilligen Staatsanwalt verwirrt. Die Beschuldigte aber fuhr ruhig und selbstsicher fort: »Daß ich einen anderen Wahnsinnigen, Monsieur Coche, gefoltert haben soll, übersteigt alles Denkbare. Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Der alte Schwätzer ist vor Habgier übergeschnappt und hat mich mit dem Tode bedroht. Ich weiß selber nicht, wie ich es fertigbrachte, ihn mit allen vier Schüssen zu treffen. Aber es ist reiner Zufall. Vielleicht hat die Vorsehung selbst meine Hand geführt. Nein, mein Herr, auch hier gehen Sie in die Irre.«
Von Fandorins Selbstzufriedenheit war nichts mehr übrig. »Erlauben Sie mal«, sagte er aufgeregt, »wir haben doch das Tuch gefunden! Sie hatten es unterm Teppich versteckt.«
»Noch eine unbewiesene Behauptung«, fuhr Mrs. Kleber ihn an. »Das Tuch hat natürlich Coche versteckt, nachdem er es meinem armen Mann abgenommen hatte. Und trotz Ihrer schäbigen Insinuationen danke ich Ihnen, mein Herr, daß Sie mir mein Eigentum zurückgegeben haben.«
Mit diesen Worten stand sie ruhig auf, trat an den Tisch und nahm das Tuch!
»Ich bin die rechtmäßige Gattin des rechtmäßigen Erben des Smaragdenen Radschas«, verkündete die erstaunliche Frau. »Ich besitze die Heiratsurkunde. Ich trage den Enkel von Bagdassar. Ja, mein verstorbener Mann hat eine Reihe schwerer Verbrechen begangen, aber was hat das mit mir und meinem Erbe zu tun?«
Da sprang Miss Stomp auf und versuchte, Mrs. Kleber das Tuch zu entreißen.
»Die Besitzungen und das Eigentum des Radschas von Brahmapur sind von der britischen Regierung konfisziert!« erklärte meine Landsmännin entschlossen, und damit hatte sie recht. »Das bedeutet, daß der Schatz Ihrer Majestät Queen Victoria gehört!«
»Moment mal!« Unser guter Doktor Truffo war auch aufgesprungen. »Ich bin zwar geborener Italiener, besitze aber die französische Staatsbürgerschaft und vertrete hier Frankreichs Interessen! Die Schätze des Radschas waren persönlicher Besitz der Familie, nicht des Fürstentums Brahmapur, darum war die Konfiszierung ungesetzlich! Charles Regnier war auf eigenen freien Wunsch französischer Staatsbürger geworden. Er beging auf dem Territorium seines Landes ein schweres Verbrechen. Eine solche Untat, noch dazu aus eigensüchtigen Beweggründen, wird nach den Gesetzen der französischen Republik mit dem Einzug des persönlichen Vermögens zugunsten des Staates geahndet. Geben Sie das Tuch her, Mesdames! Es gehört Frankreich.« Und er griff auch kriegerisch nach einem Rand des Tuchs.
Es entstand eine Pattsituation, und das machte sich der tückische Fandorin zunutze. Mit der byzantinischen Schlauheit seiner Nation verkündete er: »Das ist eine ernste Frage, die
geklärt werden muß. Erlauben Sie mir als Vertreter einer neutralen Macht, das Tuch vorübergehend an mich zu nehmen, damit es nicht zerrissen wird. Ich lege es hierher, in einiger Entfernung von den Konfliktparteien.«
Mit diesen Worten nahm er das Tuch und trug es zu einem kleinen Tisch an der Leeseite, deren Fenster geschlossen waren. Später werden Sie verstehen, liebe Emily, warum ich Ihnen alle diese Einzelheiten schreibe.
Also, das Tuch, dieser Zankapfel, lag auf dem kleinen Tisch und versprühte goldene Fünkchen. Fandorin stand davor – Ehrenposten oder Schutzwache. Wir übrigen drängten uns um den Mittagstisch. Stellen Sie sich vor: die raschelnden Vorhänge auf der Luvseite, das düstere Licht des trüben Tages und das ungleichmäßige Schaukeln des Fußbodens. Das ist die Exposition der Schlußszene.
»Niemand darf es wagen, dem Enkel des Radschas Bagdassar wegzunehmen, was ihm rechtmäßig gehört!« erklärte Mrs. Kleber, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich bin belgische Staatsbürgerin, und die gerichtliche Untersuchung wird in Brüssel stattfinden. Wenn ich verspreche, ein Viertel des Erbes für wohltätige Zwecke in Belgien zu stiften, werden die Geschworenen zu meinen Gunsten entscheiden. Ein Viertel des Erbes, das sind elf Milliarden belgische Francs – fünf Jahreseinkünfte des belgischen Königreichs.«
Miss Stomp lachte ihr ins Gesicht. »Sie unterschätzen Britannien, meine Liebe. Meinen Sie wirklich, daß man Ihrem jämmerlichen Belgien erlauben wird, über fünfzig Millionen Pfund zu befinden? Von diesem Geld bauen wir hundert mächtige Panzerschiffe und verdreifachen die Macht unserer Flotte, die auch so schon die erste
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