Das Paradies ist weiblich
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Nach sechs Stunden Fahrt über einen holprigen Gebirgspass hält Dorje, ein fülliger Tibeter in den Dreißigern mit üppigem Haar,
den Jeep an. Wir befinden uns in mehr als 3000 Meter Höhe, herabgestürzte Felsbrocken versperren uns den Weg, und zu unserer
Linken lauert der Abgrund. Dorje steigt aus, um zu prüfen, ob und wie man dem Geröll ausweichen könnte. Ich beobachte ihn,
wie er ein paar Schritte in diese, dann in jene Richtung macht, wie er in die Hocke geht, kritisch in den Schlamm fasst, den
Kopf nach vorne fallen lässt und einen Augenblick reglos vor den Steinen verharrt – dieser Mann hat so gar nichts von einem
tibetanischen Mönch, wie ich ihn mir vorgestellt habe.
Schließlich kommt er entschlossen zum Wagen zurück. Beherzt lässt er den Motor an und gibt Gas. Eines der Räder hängt frei
in der Luft. Ich halte den Atem an und lehne mich, die Hände fest um den Rucksack geklammert, mit meinem ganzen Gewicht zur
anderen Seite. Ich weiß nicht wie, aber |9| wir schaffen es und lassen die Hürde glücklich hinter uns.
Der Ort, zu dem wir unterwegs sind, heißt Luoshui und ist auf meiner Karte nicht eingezeichnet – ein eigenartiges Gefühl,
sich auf diesem Höhenweg in einem Geländewagen durchrütteln zu lassen, um an einen scheinbar nicht existierenden Punkt zu
gelangen. Dabei erinnere ich mich gut an Luoshui, ein malerisches Dorf an den Ufern des Lugu, eines der größten Gebirgsseen
von ganz Asien; ein Ort, an dem man eines der letzten Matriarchate dieser Welt bewundern kann: Hier leben die Mosuo, und bei
den Mosuo ist man im Reich der Frauen.
Vor knapp einem Jahr bin ich schon einmal in Luoshui gewesen, und als ich mich damals verabschiedete, wusste ich, dass ich
wiederkommen würde. Ich war fasziniert von dieser Gesellschaft, in der die Frauen das Sagen haben, ihre Sitten und Gebräuche
stellten alles in Frage, was für mich bis dahin logisch und erstrebenswert, schlicht die natürliche Ordnung der Dinge zu sein
schien. Die Vorstellung, dass der Mann herrscht? Nicht in diesem Dorf. Dass es in der Natur der Frau liegt, heiraten zu wollen?
Mitnichten. Dass man dem Vater Respekt zollen muss? Welchem Vater?
Diesmal bin ich darauf eingerichtet, eine Zeitlang mit den Mosuo zu leben, sie zu interviewen und |10| mit Muße dem auf den Grund zu gehen, was mich bei meinem ersten Besuch auf unerklärliche Weise so fesselte und bewegte.
Die Mosuo sind eine Gemeinschaft von fünfunddreißigtausend Menschen, in der die Frauen bestimmen, wo es langgeht, und Privilegien
genießen, die den Männern versagt bleiben. Eine Art Paradies der Frauenbewegung. Ein Beispiel dafür, wie die Wirklichkeit
aussehen kann, wenn die Spielfiguren einmal anders aufgestellt sind.
Was passiert, wenn eine Gesellschaft nicht von Männern geführt wird und Männer nicht die Hauptnutznießer sind? Wie verändern
sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern? In Luoshui ist die Frau nicht durch eine vom Machismo geprägte Erziehung
konditioniert, hier gibt es kein schwaches Geschlecht.
Ich selbst bin in einer genuin patriarchalischen Gesellschaft aufgewachsen. Wenn allerdings die Prognosen stimmen, dass in
den westlichen Gesellschaften die Position des Mannes immer schwächer wird, kann es nicht schaden, sich schon jetzt damit
vertraut zu machen, wie ein Matriarchat funktioniert.
Von Peking aus, wo ich vor vier Tagen gelandet bin, habe ich das Land einmal durchquert, um schließlich |11| Kunming zu erreichen, die Hauptstadt der weitläufigen Provinz Yunnan. Im 13. Jahrhundert war die offizielle Währung in dieser
Stadt die Meeresmuschel. Marco Polo berichtet in der Chronik seiner Reisen, dass vierzig Meeresmuscheln einer venezianischen
Währungseinheit entsprachen. Der Wechselkurs muss günstig für die chinesischen Kaufleute gewesen sein, denn Kunming florierte.
Heute gilt »die Stadt des ewigen Frühlings«, wie sie wegen ihrer beständigen milden Temperaturen heißt, als kommerzielles
Zentrum von Yunnan und verfügt über eine stattliche Anzahl von Fünf-Sterne-Hotels.
Weiterfliegen konnte ich von Kunming aus nur bis Lijiang, wo ich von Dorje, dem Fahrer, und Lei, meinem Dolmetscher, erwartet
wurde. Zu zweit hielten sie ein improvisiertes Schild hoch, auf dem fehlerhaft mein Name geschrieben stand – was sich als
vollkommen überflüssig erwies, denn ich war der einzige Nicht-Asiate im ganzen Flughafen.
Die Altstadt von Lijiang teilt ein Fluss,
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