Mord und Mandelbaiser
Hilde.
»Falsch«, erwiderte Thekla. »Die Diagnose ist gestellt, die Therapie ist eingeleitet.«
Hilde lachte laut, und die Art, wie sie das tat, ließ keinen Zweifel, dass sie Thekla auslachte.
»Ich glaube, er mag dich wirklich«, begann Wally nun wieder zu plappern. »Und du magst ihn auch sehr.« Sie kicherte. »Du bist rot geworden wie ein Teenager, als er dich so angesehen hat.«
Thekla biss die Zähne zusammen.
»Heinrich Held«, sagte Hilde plötzlich in einem Ton, als wäre er kein Unbekannter für sie.
»Du kennst ihn?«, fragte Thekla alarmiert. »Aber vorhin hast du doch so getan, als müsse er dir vorgestellt werden.«
Hilde grinste anzüglich, antwortete dann jedoch ernst: »Ich kannte ihn bis eben nicht persönlich, habe aber schon ein paarmal von ihm reden hören. Rudolf hat neulich erwähnt, dass Held vor seiner Pensionierung angeblich einen ungewöhnlichen Posten innehatte. Das Wort ›Überwachung‹ ist gefallen.«
»Was für ein Unsinn«, entgegnete Thekla. »Wenn das der Fall wäre, würde er sich wohl kaum in einem Kaff wie Moosbach ansiedeln.«
Wally machte Krötenglupschaugen. »Vielleicht steht den Moosbachern ein terroristischer Angriff bevor? Die Taliban, die Islamisten, die Hooligans –«
»Die Marsmännchen wahrscheinlich«, unterbrach sie Hilde, ließ die Autoverriegelung aufschnappen, öffnete die Beifahrertür und schob Wally in den Wagen.
Derselbe Tag
Am frühen Abend im Haus des Dichters Lanz
Thekla fragte sich, wie nichtssagende Verse zu derartigem Wohlstand führen konnten.
Das Anwesen, auf dem der Dichter mit seiner Frau gelebt hatte, befand sich am Ortsrand von Granzbach mitten in der Scheitelkrümmung der sogenannten Granzbacher Schleife, die der Moosbach beschrieb, bevor er nach Scheuerbach, wo der Christophorus über ihn wachte, und von da aus weiter zu dem nach ihm benannten Ort floss.
Ganz nach Landhausart war das Mauerwerk des Wohnhauses oberhalb des Erdgeschosses komplett mit Holzpaneelen verkleidet. Auf dem die gesamte Südseite entlanglaufenden Balkon wuchsen fette Geranien aus geschnitzten Blumenkästen. Den Dachgiebel zierte ein verschnörkeltes Türmchen.
Weil die Haustür einladend offen stand, hatten Thekla, Hilde und Wally nicht gezögert, einzutreten, waren aber gleich darauf in einer mit Möbeln und Nippes überladenen Diele mitten in einem Haufen weiterer Besucher stecken geblieben.
Thekla grüßte hierhin und dorthin und bemühte sich, dabei nicht allzu missfällig auf die Unmengen von Kristallvasen, Porzellanfiguren und Ölbilder in Goldrahmen zu starren.
»Weniger wäre mehr«, flüsterte sie Hilde zu, die sich wieder bedeutungsvoll an die Stirn tippte.
Gerlinde Lanz war bekannt dafür, dass ihre Zuneigung, ihr Interesse, ja ihre Liebe dem Luxus galten, dem Pomp, der Pracht.
Träge schob sich der Besucherstrom an einem zur Seite gerafften samtenen Vorhang vorbei und durch einen marmornen Rundbogen in das angrenzende Zimmer. Dort umkreiste das Gros der Gäste einen ovalen Tisch im Barockstil, auf dem dicht an dicht Porzellanplatten standen, die teils mit belegten Brötchen, teils mit Petits Fours bestückt waren.
Thekla musterte das Geschirr mit den Goldverzierungen, registrierte die Damasttischdecken mit Spitzenbordüren, betrachtete bombastische Vasen, in denen weiße Lilien steckten, und erblickte silbergerahmte Fotografien, an denen glänzende schwarze Trauerflore befestigt waren.
»Wo ist er denn?«, hörte sie Wally plötzlich wispern. »Wo ist denn der tote Dichter?«
»Zwischen den Häppchen offenbar nicht«, antwortete Hilde so laut, dass ein, zwei Gäste von ihren Tellern aufsahen.
Gleichzeitig fühlte sich Thekla am Ärmel gezupft und in den anderen Teil des L-förmigen Raumes gezogen. Um die Ecke musste der Sarg mit dem toten Dichter stehen, denn je näher sie kamen, desto mehr verdichteten sich die Blumenarrangements.
Thekla kniff für einen Moment die Augen zu und fragte sich, weshalb sie sich das angetan hatte. Thanatologisch zurechtgemacht oder nicht, Tote machten sie verdrießlich, mürrisch und unleidlich. Sie wäre am liebsten umgekehrt und hätte das Haus verlassen, ohne dem verstorbenen Dichter begegnet zu sein, den man offenbar ausgestellt hatte wie eine Zirkusattraktion.
Wally schien hin- und hergerissen zwischen Neugier und Gruseln, denn Thekla hörte sie neben sich keuchen. Widerstrebend ließ sie sich von Hilde weiterziehen und sah sich – nachdem sie einen kostbar wirkenden Orientteppich überquert
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