Mord und Mandelbaiser
erwiderte Friesing. »Kleine Einsenkungen der Haut mit einem blassen porzellanähnlichen Wall. Das sind die Kontaktpunkte. Bei Ulrike Meiler befanden sie sich an beiden Daumen und an beiden großen Zehen. Jemand hatte die Frau betäubt und dann die nicht isolierten Enden mehrerer Stromkabel mit Klebeband an ihren Daumen und großen Zehen befestigt. Daraufhin hat er die passenden Stecker eingesteckt.«
Thekla sah ihn wissend an. »Für einen Elektriker dürfte das nicht schwierig sein.«
»Das dachte die Polizei auch«, sagte Friesing. »Meiler war innerhalb von wenigen Tagen überführt. Man fand die Kabel, die er für den Mord verwendet hatte, sogar noch in seinem Keller.«
»Frau Meilers Mörder konnte also dingfest gemacht werden«, resümierte Thekla, »weil der neue Doktor von seinem Fach eine ganze Menge versteht.«
Friesing zog eine Grimasse. »Aber statt sich zu bedanken, haben etliche Moosbacher, Scheuerbacher und Granzbacher mit Fingern auf den neuen Doktor gezeigt und ihn verteufelt.«
»Ja, so sind sie«, sagte Thekla trocken.
Friesing hatte fast verschämt den Kopf gesenkt. »Ich hatte den angesehenen Besitzer des Elektrogeschäfts Meiler, Gemeinderat in Granzbach, Mitglied der vereinigten Trachtenvereine von Moos-, Scheuer- und Granzbach und Vorstand des FC Weiß-Grün, ins Kittchen gebracht, und ich habe den allseits beliebten Dr. Stenglich bloßgestellt.«
Thekla hob die Hand, machte eine Faust und reckte den Daumen abwärts.
»So lautete wohl das Urteil über mich«, stimmte ihr Friesing zu und starrte wieder auf das Stickbild.
Der Bursche ist auf Draht, dachte Thekla. Wenn jemand über die seltsamen Flecken, die Hildes Neffe entdeckt haben will, etwas Vernünftiges sagen kann, dann er.
Kurzerhand beschloss sie, Friesing einfach zu fragen.
»Woran würden Sie wohl denken, Doktor«, begann sie etwas zögernd, »wenn Sie an einer Leiche Flecken sehen würden?«
Weil Friesing sie daraufhin mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen in den Augen ansah, fuhr sie hastig fort: »Offenkundiges schließen wir aus: Totenflecken, allergiebedingte großflächige Ausschläge, Wundliegen …«
»Verstehe«, sagte Friesing. Dann versenkte er den Blick in den der Schäferin.
Thekla fragte sich, welche Bilder in seinem Kopf wohl kamen und gingen.
»Kirchhof-Rosen«, erklärte Friesing nach einigen Augenblicken. »Es könnte sich um Kirchhof-Rosen handeln. Sie treten bei manchen Sterbenden durch das Nachlassen der Herz-Kreislauf-Tätigkeit auf.
Friesing scheint in seinen Vorlesungen und bei den Praktika tatsächlich gut aufgepasst zu haben, sagte sich Thekla und hakte sogleich nach. »Wenn also ein Verstorbener an den Knie-Innenseiten Flecken hat, dann sind das vermutlich Kirchhof-Rosen.«
Friesing runzelte die Stirn. »Ausschließlich an den Knie-Innenseiten?«
Als Thekla nickte, schüttelte er den Kopf.
»Was könnte es dann sein?«, fragte Thekla unnachgiebig.
Friesing fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, sodass er noch verwuschelter aussah als gewöhnlich. »Flecken an den Knie-Innenseiten …«, wiederholte er versonnen. Und auf Theklas kurzes Nicken hin: »Flecken oder Blasen?«
Thekla wollte schon die Schultern zucken, da fiel ihr ein, wie sich Hilde ausgedrückt hatte: »Flecken, die sich von der Haut abheben.«
Friesing schwieg nun ziemlich lange, und als er endlich wieder den Mund aufmachte, rechnete Thekla fast damit, dass er sie mit einem: »Druckstellen vielleicht«, abspeisen würde.
Er sagte jedoch: »Bei dem, was Sie da beschreiben, Frau Stein, könnte es sich um Holzer-Blasen handeln. Mit Betonung auf ›könnte‹! Um keinen Unsinn in die Welt zu setzen, würde ich lieber die einschlägige Literatur zurate ziehen. Um sicher zu gehen, müsste ich die Flecken natürlich inspizieren. Sie zeigen übrigens eine Barbituratintoxikation an.«
Thekla erschrak. »Sie meinen, ein Toter kann solche Flecken nur dann haben, wenn er an einem überdosierten Betäubungsmittel gestorben ist?«
»Exakt«, antwortete Friesing. »Das lässt sich aber ganz einfach überprüfen, weil in so einem Fall im Blut Barbitursäurederivate nachzuweisen sind. Allerdings nicht lange, ein paar Tage vielleicht.« Er schaute Thekla forschend an. »Wo glauben Sie denn, das Symptom gesehen zu haben?«
Thekla wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Durfte sie an den Doktor weitergeben, was Hilde am Nachmittag im Café Krönner erzählt hatte? Eigentlich war er an seine ärztliche
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